Eine „Grenzgängerin” gastiert in Schwerin
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von Til Rohgalf
Büşra Kayıkçıs Musik stellten wir bereits im Kulturkompass M-V vor. Für die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern wird sie im August ein Konzert in Schwerin geben. In diesen Tagen erscheint zudem eine neue Veröffentlichung der Künstlerin. Für das folgende Porträt gab Büşra Kayıkçı dem Kulturkompass tiefe und ausführliche Einblicke in ihren Schaffensprozess. Wir konnten auch vorab in die Stücke ihres neuen Releases hineinhören.
In den wiederkehrenden Puls von Webstühlen mischt sich das charakteristische Klavierspiel Büşra Kayıkçıs. Die rhythmische Adaptation des mechanischen Sounds mündet in komplexe Melodien. Sinnigerweise trägt ihr neues Release den Titel „Weaving”. Es ist ein konzeptionelles Werk, in dem sich die Komponistin auf eine sehr persönliche Reise begibt.
Anatolische Herkunft
Sie spürt der traditionellen anatolischen Webkunst musikalisch nach und sieht dabei ihr eigenes künstlerisches Schaffen in einer vergleichbaren Tradition des Erzählens: „In Anatolien war Weben nie nur ein Handwerk – es war eine Form des Ausdrucks“, führt Büşra Kayıkçı aus. „Frauen webten ihre Lebensgeschichten in jedes Muster ein, Faden für Faden, und betteten ihre Freuden, Sorgen, Hoffnungen und Träume in komplizierte Muster ein. Vielleicht konnten sie ihre Gefühle nicht immer ausdrücken, aber sie konnten sie zu etwas Bleibendem verweben. Ich glaube, das Komponieren von Musik hat dieselbe Wirkung auf mich. Auch wenn unsere Kunstformen unterschiedlich sind, vollziehen wir dasselbe: Wir übersetzen unsere inneren Welten in etwas Greifbares.“
Das Klavier, an dem sie ständig komponiere und arbeite, erinnere sie dabei immer an die traditionellen Webstühle in Anatolien: „mit seiner vertikalen Struktur, den freiliegenden inneren Saiten und dem Stoff, der die Hämmer bedeckt.”
Mit Tracktiteln wie „Dragon”, „Chest”, „Bird” oder „Fertility” verweist Büşra Kayıkçı auf die reiche Symbolik dieser Webkunst, die bis heute Bestandteil der anatolischen Kultur und Alltagssprache sei. Wenn beispielsweise beim Trinken von türkischem Kaffee der Kaffeesatz eine Form bilde, die einem Vogel gleiche, so würde sprichwörtlich darauf verwiesen, dass gute Nachrichten unterwegs seien. „Chest” wiederum verweise auf den in Anatolien geläufigen Begriff des „Brustflecks”: Er beziehe sich auf einen tatsächlichen Fleck, der sich mit der Zeit in einer Truhe bilde. Metaphorisch würde er aber verwendet, um über ein Geheimnis aus der Vergangenheit zu sprechen.

Büşra Kayıkçıs minimalistische und leise Musik mit ihrer meditativen Kraft mag intuitiv wenig zum pulsierenden und lauten Großstadtleben ihrer Heimat Istanbul passen. „Eigentlich lebe ich ein ruhiges Leben in einem friedlichen Viertel Istanbuls”, relativiert die Musikerin diesen Eindruck, „hier bin ich aufgewachsen und ziehe jetzt auch meine Tochter groß. Wir sind also etwas abseits vom Chaos der Stadt.” Aber als Istanbulerin habe sie dennoch eine gewisse Zuneigung zu diesem Chaos und verwendet ein türkisches Sprichwort zum Ausdruck dieser Ambivalenz: „Wer die Rose liebt, muss auch die Dornen ertragen.“ Istanbul sei für sie diese kostbare Rose. „Ehrlich gesagt”, fügt sie scherzhaft hinzu, „bin ich mir bei meinen Europareisen oft unsicher, wie ich meine Zeit in dieser ruhigen, gemächlichen Umgebung verbringen soll.”
Pulsierende Metropole und kulturelle Tradition
Geboren und aufgewachsen ist Büşra Kayıkçı in Istanbul. Ihre Eltern stammen aber aus unterschiedlichen Regionen Anatoliens. Sie lebten gemeinsam mit ihren Familien die reichen kulturellen Traditionen auch nach ihrem Umzug nach Istanbul und prägten die Komponistin nachhaltig.
„Die Türkei ist ein unglaublich lebendiges Mosaik”, erklärt Büşra Kayıkçı. So sei die folkloristische Musik Nordanatoliens gemeinhin fröhlich und leicht, jene aus Ostanatolien das genaue Gegenteil: „Ich liebe beide sehr. In jedem von ihnen finde ich Vitalität und Lebendigkeit. Für mich steht Anatolien für Vielfalt, Überfluss, Großzügigkeit und Offenheit. Es trägt viele verschiedene Ethnien und Kulturen in seinem Herzen.”
So stellt die Komponistin den Einfluss anatolischer Musik auf ihren kreativen Prozess heraus, auch wenn es keine unmittelbar hörbaren Parallelen zu geben scheint. Sie nehme die westliche Musik visuell als „vertikal“ und östliche Musik als „horizontal“ wahr: Während westliche Musik oft polyphon und schichtartig sei, lege die östliche bzw. anatolische Musik den Schwerpunkt auf die melodische Entwicklung einer einzelnen Note mit ihren Verzierungen und Mikrotonverschiebungen. Diese Melodielastigkeit in ihrer eigenen Musik spiegele auch ihre östliche Herkunft wider.
Malerei als Medium
Neben der Musik nutzt die studierte Architektin zunehmend auch die Malerei als künstlerisches Medium. Wann immer sie beim Komponieren am Anfang eines Stückes feststecke, greife sie intuitiv zu Pinsel und Farbe. So habe die Malerei einen direkten Einfluss auf ihren Kompositionsprozess.
Die Reduktion auf das Wesentliche ist dabei ein zentrales Charakteristikum für Büşra Kayıkçıs interdisziplinäres Schaffen: „Sowohl in der Musik als auch in der Malerei strebe ich danach, mit möglichst wenigen Elementen viel – oder etwas Tiefgründiges – auszudrücken. Minimalismus bedeutet für mich, zu fragen: „Welche Linie oder welchen Klang können wir aus einer Komposition entfernen, ohne dass der Fluss und die Erzählung für das sehende Auge oder das hörende Ohr verloren gehen?“
Der Kompositionsprozess ist dabei für sie nicht nur ein Kontrapunkt zur äußerlichen Reizüberflutung, sondern auch ein probater Weg, das Chaos in ihr selbst zu entwirren. Wann immer sie ein tiefgreifendes Erlebnis erlebe – sei es ein Film, ein Buch, ein anderes Musikstück oder ein Kunstwerk –, könne sie nicht aufhören, an die Emotionen zu denken, die es in ihr auslöse: „Egal, was ich tue, ich fühle mich dazu gezwungen, Musik darüber zu schreiben. Nur so kann ich diese tiefen, inneren Gefühlswellen voll zum Ausdruck bringen. Und diese Momente haben mich immer dazu gebracht, etwas zu erschaffen.”
Sie neige dazu, alles zu überdenken und jede Situation aus verschiedenen Blickwinkeln zu analysieren. Eine der effektivsten Möglichkeiten, sich von diesen intensiven, verschachtelten Gedanken zu befreien, sei das Komponieren von Musik: „Es ist, als würde ich im Kopf einen Tab schließen”, lacht sie, „obwohl ich natürlich schnell zum nächsten übergehe.”
Fotos: mit freundlicher Genehmigung @Warner Classics
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Büşra Kayıkçıs „Weaving” erscheint heute bei Warner Classics. Am 20. August präsentiert sie ihre Musik im Schweriner E-Werk im Rahmen der Festspiele M-V.
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