„Wohnen“ von Doris Dörrie

Der Hanser Berlin Verlag legt seit einiger Zeit eine kleine, feine Reihe auf, die die zehn wichtigsten Themen des Lebens aus Sicht hochkarätiger Autorinnen beleuchtet. Den Anfang machten Elke Heidenreich mit dem inzwischen riesigen Bestseller „Altern“ und Theresia Enzensberger mit „Schlafen“. „Lieben“, „Streiten“ und „Arbeiten“ folgten im Herbst vergangenen Jahres und in diesem Frühjahr.

Nun hat die Autorin und Filmemacherin Doris Dörrie mit „Wohnen“ einen weiteren Erfolg in den Bestsellerlisten platziert – und das, obwohl sie in Interviews stets beteuert, sich eigentlich nie besonders fürs Wohnen interessiert zu haben. Trotzdem ist sie ganz stolz auf die erste Einbauküche ihres Lebens, die sie erst weit in ihren 60ern gekauft hat. Natürlich geht es in diesem 123 Seiten langen Essay um sehr viel mehr als nur Möbel oder Einrichtung.

Dörrie beginnt den Text mit ihrer wohlbehüteten Kindheit in Hannover, wo sie zusammen mit dem Arzt-Vater und der Hausfrau-Mutter (mit abgebrochenem Medizinstudium) und drei Schwestern aufwächst. Doch bald geht es in die Tiefen der Familienvergangenheit. Das Ausgebombtwerden der Großeltern in den letzten Kriegsmonaten, das bedrückend provisorische Leben im Keller und der dann folgende berühmte Wiederaufbau. Bald schlägt sie den Bogen zu ihrer eigenen WG-Studentenzeit und das freilich selbstgewählte Provisorium. Ihr gelingt es immer wieder, neben der Schilderung der individuellen Situation auf das gesellschaftlich größere Bild zu wechseln. Sehr lustig sind ihre Erfahrungen während ihres Studiums in Los Angeles, wo sie sich, vermeintlich am Kauf interessiert, aus Langeweile von Maklerinnen luxuriöse Häuser zeigen lässt. Monströs große Villen, aberwitzig eingerichtet, werden durchwandert, die auf sie eher abschreckend als einladend wirken. Als Filmregisseurin, deren Erfolg mit „Männer“ Anfang der 80er Jahre seinen Lauf nahm, hat Dörrie sich allerdings immer beruflich um Räume und deren Ausstattung kümmern müssen, damit ihre erdachten Figuren auch dadurch charakterisiert werden. Gern hat sie dann zu sterilen Sets wieder unordentlich und damit lebendig gemacht.

Bald weist sie natürlich auf Virginia Woolfs berühmten Essay „A Room of one’s own/Ein Zimmer für sich allein“ hin, in dem die britische Autorin bereits 1929 manifestierte, wie wichtig für eine (schreibende) Frau ein ungestörter Rückzugsort ist. Nicht zu vergessen, dass dazu aber auch 500 Pfund im Jahr vonnöten sind. Verwundert erinnert Dörrie sich daran, dass sie schon als Kind anders als ihre Schwestern ein eigenes Zimmer hatte, ihre Mutter jedoch nie. Die Küche mitsamt Esstisch war immer der Mittelpunkt der Familie, drei Mahlzeiten täglich wurden gemeinsam (!) eingenommen. Hier vermutet Dörrie auch den Beginn ihrer Karriere: Sich gegenseitig die Erlebnisse beim Essen zu erzählen und den Geschichten anderer zu lauschen, hat sie seitdem ihr Leben lang mit Freude weiter betrieben.

An ihren eigenen Lebensphasen kann die Autorin wunderbar kurzweilig darlegen, dass je nach Situation das Wohnen ganz andere Anforderungen erfüllen muss. Als Doris Dörrie schwanger wird, geschieht das lange Zeit für sie Unvorstellbares: Sie kauft mit ihrem Mann ein bayerisches Bauernhaus, 110 km von München entfernt, und probiert ein Leben mit Kleinkind auf dem Land. Eine Zeit lang geht das gut.

Sie nimmt aber auch die dunklen Seiten des Wohnens in ihren Überlegungen nicht aus: häusliche Gewalt an Frauen, die ihre Wohnung nicht verlassen können, das Verschwimmen von Privatheit und Öffentlichkeit in der immer digitaler werdenden Welt, das Haus als einsamer Raum, aber auch als Schutzraum vor dem Außen. Und auch der Verlust der Behausung, also der Heimat, wie es vielen Flüchtlingen ergangen ist und immer noch ergeht, fließt in ihre Betrachtungen ein.

Dieses knappe Buch ist ein sehr anregender Strauß aller möglichen Gedanken über das Wohnen und dessen Bedeutung für jedes einzelne und auch gemeinschaftliche Leben. Nach der Lektüre hallen viele Ideen daraus noch lange nach.

„Wohnen“ von Doris Dörrie, erschienen im Hanser Verlag Berlin, 123 S., 20 Euro

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Manja Wittmann ist Bücher-Lotsin des Kulturkompass-MV und wird uns in alle möglichen Himmelsrichtungen literarischer Neuerscheinungen führen. Sie ist Buchhändlerin in München. Manja hat lange in der Film-und Fernsehbranche gearbeitet und wird uns beim Kulturkompass-MV auf ihre literarischen Favoriten hinweisen und spannende Sachbücher empfehlen. Sie kommt aus Schleswig-Holstein und da wundert es nicht, dass der Schwerpunkt auf Büchern liegt, die mit dem Meer zu tun haben oder von nord- bzw. ostdeutschen Autor*innen stammen.

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