von Gottfried Timm
Blau war der Himmel über dem Schweriner See, als ein langgestrecktes Segelschiff am großherzoglichen Schloss vorbeiglitt. Es holte sein Segel ein und brachte genau dort, wo heute die Fahrgastschiffe der Weißen Flotte liegen, seinen Anker aus. Die Bootsmänner klarierten noch das Deck auf, da stiegen auch schon aus der Kajüte zwei junge Mädchen herauf, mit weißen Hüten geschmückt, setzten sich an die Bordkante und begannen in ihren Skizzenheften die Umrisse des über dem See funkelnden Schlosspanoramas zu zeichnen. Am Ufer versammelten sich die ersten Schaulustigen. Selten hatte sich in diesen Winkel Mecklenburgs ein Schiff unter fremder Flagge verirrt, der britischen, aber noch nie war einem ehemaligen Lastenkahn eine illustre Gesellschaft entstiegen, die allein vom Interesse an fernen Ländern und der Neugier auf fremde Menschen angetrieben worden war. Vom Ufer wriggten und ruderten die ersten Jollen und Kähne heran, es bildete sich ein turbulenter Pulk um das exotische Schiff. Man stand auf den Duchten und reckte die Hälse. Jeder wollte selbst sehen und hören, was sich an diesem Nachmittag auf der Schlossbucht zu ereignen versprach.
An der Reling erschien Mr. Henry M. Doughty, der Kapitän, gesetztes Alter, charmant in Tweed gekleidet. Das Rufen ging hin und her, aber das Dolmetschen blieb auf der Strecke, nur einige wenige der anwesenden Schweriner waren des Englischen kundig. Das Schiff sei eine Wherry von der Ostküste Englands, erläuterte Doughty. Im letzten Jahr seien sie von dort aufgebrochen und über die friesischen Kanäle, die Ems, die Elbe und die Elde bis hierher gesegelt. Oft aber hätten sie das Boot mit Stakstangen voranbringen müssen, und wenn das Wasser ganz flach wurde, musste der Kiel sogar abgeschraubt werden. Sie hätten eine Karte der Preußischen Regierung dabei und wollten die vielversprechenden Seen, Flüsse, Güter und Städte in Mecklenburg kennenlernen. Und dann soll es weitergehen über die Havelseen und das Strelitzer Land nach Süden und auf der Elbe über Dresden hinaus bis in die Böhmische Schweiz. Mit einer Handbewegung nach Steuerbord stellte er seine Mitsegler vor: Seine zwei jugendlichen Töchter, seinen Butler, den Bootsmann und den friesischen Fischer Piet.
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Über seine ungewöhnliche Unternehmung hat Mr. Dougthy ein Logbuch verfasst, einen reizenden Bericht über die Abenteuer auf seiner Norfolk-Wherry, der Gipsy, zwischen den Jahren 1889 und 1891. Die Übersetzung dieses Buches, herausgebracht vom Quick Maritim Verlag am Südufer der Müritz, liest sich so, als ob man unmittelbar neben dem staunenden Engländer auf den Schiffsplanken steht und eine schier unberührte mecklenburgische Seenlandschaft an sich vorbeigleiten sieht.
„Wildes Leben hieß uns (am Müritzufer gegenüber Ecktannen) willkommen: anmutig springendes Rehwild, braune, großäugige Hasen mit ihren Hängeoh-ren, unverschämt zahme Eichhörnchen, Wanderfalken, Bussarde, kleinere Habichte, die mit göttlichem Vergnügen in der Luft schwebten, schwarze Spechte mit roter Brust, blaue Eichelhäher, die zwischen roten Kiefernstäm-men schimmerten und goldfarbene Pirole, die ihre drei klaren Töne pfiffen, sich aber selten sehen ließen. Die Mädchen pflückten Sträuße von wilden Blumen und wanderten am bewaldeten Steilufer entlang. Sie genossen den Ausblick auf den sonnenbeschienenen See und die entfernten verschleierten Ufer gegenüber, gestört nur von einem gefährlichen Tier: einer einen Fuß langen Eidechse, tigerartig gelb und schwarz gestreift, die sich braun färbte, als sie versuchten, sie zu fangen“.
Für Mr. Doughty und seine Crew wurde jeder Tag zu einer aufregenden Angelegenheit. In den Kleinstädten, in denen sie festmachten, fiel ihnen die Enge in den Gassen auf und der beißende Geruch, der aus ihren Rinnsalen aufstieg. Auf dem Lande wurden sie Augenzeuge einer im Vergleich zur eigenen Heimat, in der die Dampfmaschine bereits ihre Arbeit verrichtete, technisch weit zurückgebliebenen Landbewirtschaftung. Überwiegend Frauen, so notierte der Engländer, „gruben mit kurzstieligen Forken auf den Feldern und knieten im Modder“, während die Männer zum Dienst im „unproduktiven Heer“ eingezogen wurden. Häufig wurden die Abenteurer umringt von offenherzigen und neugierigen Menschen jeden Alters, Fischern, Tagelöhnern, Kindern. Dann segelten sie wieder an prachtvollen Park- und Gutsanlagen vorbei, von deren Besitzern sie zum Abendessen eingeladen worden sind. Mr. Doughty hatte sich ausgiebig mit der Geschichte und Frühgeschichte Mecklenburgs vertraut gemacht, hatte alte Legenden und Sagen mit an Bord genommen, so dass er seine Ausflugsziele auch anhand tradierter Überlieferungen einzuordnen wusste.
„Diese Nacht lagen wir Querab von der Halbinsel Damerow, vierhundert Yards vom Ufer, aber nicht mehr als fünf Fuß tiefem Wasser. Es ist eine prähistorische Begräbnisstätte, und als der Tag zu Ende ging und schwindendes Licht schräg auf dem Wasser lag, umflog ein geisterhafter Schwarm von Wildgänsen das Schiff, und grüßte uns unbesonnene Eindringlinge mit ihrem unheimlich klingenden Schrei.“
Das Büchlein „Mit Butler und Bootsmann“ präsentiert uns ein Reisetagebuch eines abenteuerlustigen, auch ein wenig spleenigen Wasserwanderers, der mit seiner Mannschaft durch die Seen in Mecklenburg–Schwerin und Mecklenburg–Strelitz gesegelt ist bzw. sich durch die enge Flusslandschaft stakend durchzukämpfen wusste. Mit ihm fällt unser Blick auf das Leben in unserem Landstrich, wie es sich zweieinhalb Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zeigte. Vor allem aber zeigen die Aufzeichnungen des naturkundigen Engländers etwas von dem Reichtum der Flora und Fauna an den Flüssen und Seen unseres Bundeslandes, eine Vielfalt der Natur, die in – historisch betrachtet – extrem kurzer Zeit drastisch und schmerzhaft geschrumpft ist.

Mit Butler und Bootsmann: Ein Bootstoern anno 1890 von Friesland ueber die mecklenburgischen Seen bis nach Boehmen, von Doughty, Henry Montagu, erschienen bei Quick Maritim Medien, 3. Aufl. 2018, 256 Seiten für 11,80 Euro
