Versteckt und voller Geschichte – die Dorfkirche von Vietlübbe

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Ein echtes architektonisches Kuriosum, vorgestellt von Til Rohgalf

Wer durch die Dörfer Westmecklenburgs fährt, den begleiten allerorten Kirchen. Über tausend sollen es sein zwischen Ostseeküste und Seenplatte, zwischen Boizenburg und Ueckermünde – viele verborgen, einige weithin sichtbar. Doch wer sich aufmacht nach Vietlübbe, einem Ortsteil von Dragun unweit von Gadebusch, der entdeckt eine ganz besondere, stille Schatzkiste. Hier steht eine der ältesten erhaltenen Kirchen Mecklenburg-Vorpommerns – und ein echtes architektonisches Kuriosum.

Die Dorfkirche wurde wahrscheinlich zwischen 1220 und 1230 erbaut, in einer Zeit, als die Romanik vielerorts in Europa bereits durch den gotischen Baustil abgelöst worden war. Der Name Vietlübbe taucht schon 1230 als Parochie (Pfarrei) Vitelube im sogenannten Ratzeburger Zehntregister auf. 

Was dieses Kleinod besonders macht, ist der Grundriss der Kirche: Statt eines langen Kirchenschiffs, wie wir es von vielen anderen Kirchen kennen, besteht die Kirche aus fünf gleich großen Quadraten, die ein griechisches Kreuz bilden – also ein Kreuz mit gleich langen Armen. In Mecklenburg ist dieser Grundriss einmalig. Selbst für die gesamte Region nördlich der Alpen ist diese Bauweise ein echtes Unikum. Ursprünglich war eine Erweiterung des Grundrisses zu einem lateinischen Kreuz vorgesehen. Die Kirche in Vietlübbe würde auch in dieser Hinsicht sowohl der Klosterkirche in Neukloster als auch dem Ratzeburger Dom gleichen. Alle drei Kirchen weisen auch weitere Ähnlichkeiten auf, die darauf zurückzuführen sind, dass die drei Sakralbauten zum damaligen Bistum Ratzeburg gehörten. Zu den eindrucksvollsten Gemeinsamkeiten gehören die jeweils drei Fenster, die nach Osten ausgerichtet sind. Die hinenscheinende Morgensonne versinnbildlicht in der romanischen Sakralkunst auf effektvolle Weise die christliche Trinität. Im Osten schließt sich eine sogenannte Apsis, ein halbkreisförmiger Anbau, an. 

Kirche in Vietlübbe, die Apsis (Foto: @ Chpagenkopf, wikimedia commons)

Diese kompakte Form wirkt von außen schlicht, doch im Inneren zeigt sich die besondere Ordnung der romanischen Baukunst. Die Vierung, so wird das mittlere Quadrat genannt, in dem Haupt- und Querschiff einer Kirche zusammentreffen, wird von vier niedrigen, aber massiven Rundpfeilern getragen. Die Wände bestehen aus Backstein. Das Material war typisch für Sakralbauten in Norddeutschland, wo Naturstein knapp war. So wurde der gebrannte Ziegel zum Hauptbaustoff, jene rote Notlösung, aus der die norddeutsche Backsteinromanik geboren wurde.

Dann dieser Turm im Westen: achteckig, spitz, aus Holz. Er wirkt beinahe zu groß für die kompakte Kirche. Und noch etwas fällt aus dem Rahmen: Die beiden genannten Kirchen des ehemaligen Bistums, der Ratzeburger Dom und die Klosterkirche in Neukloster, besitzen Türme als vertikale Erweiterung der Vierung. Andere Dorfkirchen aus dieser Zeit haben dagegen oft gesonderte Kirchtürme. Es wurde sogar spekuliert, ob es sich bei dem Kirchturm überhaupt um eine mittelalterliche Erweiterung handelt. Doch die dendrochronologische Wahrheit ist: Das Holz stammt von 1515. Und auch wenn andere Kirchen des Bistums Ratzeburg Türme über der Vierung tragen – Vietlübbe stemmt sich gegen den Standard.

Die heutige Kirche ist auch im Inneren nicht mehr ganz die des 13. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert, genauer 1865, wurde sie von Georg Daniel umfassend im Stil der damaligen Zeit renoviert – mit neugotischen Farben, neuer Ausstattung und reichlich Dekor. Georg Daniel kann als einer der wichtigsten mecklenburgischen Architekten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Sein historistischer Stil war äußerst gefragt und prägt das Stadtbild verschiedener Orte der Region bis heute. Zum Teil des UNESCO-Weltkulturerbes wurde im letzten Jahr auch das nach Plänen Georg Daniels erbaute Gebäude des heutigen Mecklenburgischen Staatstheaters in Schwerin.

Aus der Vietlübber Dorfkirche verschwand Georg Daniels Handschrift gegen Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend. Seit den späten 1980er-Jahren hat die Gemeinde den Innenraum schrittweise „reromanisiert“. Das bedeutete: Weg mit den späteren Übermalungen und Verzierungen, hin zur klaren, schlichten Raumwirkung der Romanik. Die Vorbilder dafür fand man nicht zuletzt im nahen Ratzeburger Dom.

An die Zeit von 1865 erinnern nur noch die Bänke und die Orgel der Kirche. Diese wurde 2013 unter Wahrung des Originalinstruments restauriert. Auch der Taufstein änderte über die Jahrhunderte mehrmals seinen Platz: In der romanischen Zeit im Westen der Kirche unter der Orgel zu finden, wurde die „Tauffünte“ (vom lateinischen „Fontanelle“ für Quelle) nach Georg Daniels Plänen in Altarnähe im Osten platziert. Heute ist er im Süden der Kirche zu finden.

Der Kalkstein, aus dem die „Tauffünte” gefertigt wurde, kommt in dieser Region nicht vor. Möglicherweise stammt er aus Schweden. Die im Taufstein eingelassene Messingschale aus dem 17. Jahrhundert enthält die Worte Jesu an seine Jünger aus dem Markus-Evangelium: „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes“ (Mk 10,14). 

Und dann ist da noch das spätmittelalterliche Triumphkreuz aus dem frühen 16. Jahrhundert: Jesus am Kreuz, flankiert von Maria und Johannes – geschnitzt aus Eichenholz, schweigend und mahnend zugleich.

Heute ist die Vietlübber Kirchengemeinde mit der Gemeinde Mühlen-Eichsen verbunden. Sie ist Teil des evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Mecklenburg und gehört zur Propstei Wismar. 

Die Kirche selbst? Vielleicht kein architektonischer Star der Backsteinromanik. Aber wer genau hinschaut, entdeckt hier ein verborgenes Kapitel jener großen Baukunst, die in Norddeutschland Heimat gefunden hat. Und ein stilles Zeugnis davon, wie eng Religion, Gesellschaft und Kultur auf dem Land einst verwoben waren – selbst, wenn heute kaum jemand mehr daran denkt.

Titel: Dorfkirche Vietlübbe (Foto: @ Chpagenkopf, wikimedia commons)

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Til Rohgalf studierte Sonderpädagogik, Philosophie und Geschichte (M.A.), er ist im Schuldienst tätig, musikbegeistert und musikalisch aktiv. Ihn interessieren politische, kulturelle und geistesgeschichtliche Themen.
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