Unharmonisches zu Mendelssohns Harmoniemusik aus Doberan

Nicht vor Ort komponiert, aber vom Ort inspiriert:

Felix Mendelssohn Bartholdys »Ouvertüre für Harmoniemusik«, op. 24

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von Achim Hofer

Als der 15-jährige Felix Mendelssohn Bartholdy im Juli/August 1824 mit seinem Vater anlässlich eines Kuraufenthaltes in (Bad) Doberan weilte (Titelfoto), fühlte er sich sehr von der sogenannten »Harmoniemusik« angesprochen. Damit bezeichnete man das Bläserensemble, das der mecklenburgische Großherzog Friedrich Franz I. in den Sommermonaten aus Schloss Ludwigslust in seine Doberaner Sommerfrische mitnahm, wo es auch für die Kurgäste auftrat. Zahlreiche zeitgenössische Kritiken bezeugen das hohe musikalische Niveau dieses elfköpfigen Ensembles, zum Beispiel, wenn es 1819 heißt: »Was im Einzelnen die sogenannte Harmonie der Blasinstrumente leistet, das werden diejenigen von den Dobberaner Badegästen bezeugen, welche Kenner der Kunst sind.« Felix besucht die mittäglichen Konzerte der Harmonie mit schöner Regelmäßigkeit; am 21. Juli schreibt er an seine ebenfalls musikalisch hochbegabte Schwester Fanny nach Berlin: »Nun ist’s zwölf; man macht sich ordentlich, und geht in die Harmoniemusik«. Dabei entdeckt er auch seine Liebe zu den Blasinstrumenten, wie er seiner Schwester drei Tage später mitteilt: »[…] ich lebe und sterbe für Hoboen. Auch Trompeten stehn sehr in meiner Gunst […]. Auch werd‘ ich Hörner bald sehr lieben […].« Und am 27. Juli gesteht er ihr: »[…] ich glaube, durch die hiesige Harmonie, manches gelernt zu haben.« 

Der Mythos der „Doberaner Blasmusik“ entsteht

Felix‘ neu entdecktes Faible für Blasinstrumente führte dazu, dass er ein Bläserstück komponierte, das später als »Doberaner Blasmusik« bezeichnet wurde, nicht zuletzt, weil es genau für jene elf Instrumente der herzoglichen Harmoniemusik geschrieben war, die Felix dort nahezu täglich hörte. Auch erwähnt er seine »Componierlaune«, die er in Doberan verspürt habe. Was lag da näher, als anzunehmen, dass er sein Bläserstück 1824 in Doberan für die Doberaner Harmoniemusik komponierte?  Zu einigen der Musiker hatte er persönlichen Kontakt. Das passte alles wunderbar zusammen und war zu schön, um nicht wahr zu sein. Und so hielt sich der um 1860 entstandene Mythos, Mendelssohn habe sein Bläserstück 1824 in Doberan komponiert, bis vor wenigen Jahren. Selbst in der Musikwissenschaft wurde das einzig erhaltene Autograph von 1826 (Abb. 2, heute in der Staatsbibliothek zu Berlin) für eine Abschrift gehalten, dessen Doberaner Original vom Sommer 1824 leider verschollen sei. 

Abb. 2: Anfang des Bläserstücks von 1826 (Staatsbibliothek zu Berlin)

Nicht in Doberan, aber für Doberan komponiert

Heute wissen wir: Eine 1824 in Doberan komponierte Version hat es nie gegeben. Das Stück schrieb Felix erst zwei Jahre später. Das erhaltene Autograph mit Datum »Berlin am 27 Juny 1826« (Abb. 3) ist tatsächlich die Urfassung. Mithin hat Mendelssohn die »Doberaner Blasmusik« nicht in Doberan komponiert, aber für Doberan. 

Abb. 3: Letzte Seite des Bläserstücks mit Datum »Berlin am 27. Juny 1826« (Staatsbibliothek zu Berlin)

Belegt ist dies durch Briefe Fannys, die Ende Juni 1826 ebenfalls mit ihrem Vater ins Seebad anreiste. Offenbar hatte Felix sich beeilt, die Partitur noch zwei Tage vor Fannys Abreise nach Doberan fertigzustellen. Ob er dies jemals gemacht hätte, wenn Fanny nicht nach Doberan gereist wäre, kann man mit guten Gründen bezweifeln. Es hatte offenbar dieses Anlasses bedurft, nachdem das Bläserwerk zwei Jahre lang entweder überhaupt nicht oder allenfalls in Skizzen existierte hatte, versehen vielleicht mit Notizen über die genaue Besetzung der Doberaner Harmoniemusik. Fanny übergab Felix‘ fertige Partitur am 11. Juli 1826 dem Hornisten der großherzoglichen Harmonie, Carl Bode, den Felix 1824 kennengelernt hatte. 

In Doberan nie aufgeführt?

Wahrscheinlich ist das Stück dort, so sehr es auch bis in die Besetzung hinein Bezug nimmt auf die Doberaner Harmoniemusik, nicht einmal aufgeführt worden. Fanny hatte zum Beispiel gehofft, es während eines Konzertes in Doberan einmal hören zu können, worüber sie ihrem Bruder am 22. Juli 1826 berichtete: »sie [die Musiker] legten neue Noten auf, und rumorten viel durcheinander, und da bildete ich mir ein, nun würde Dein Stück kommen, und saß da, mit offenem Munde, gespreizten Fingern, und dumm aufmerksamen Augen. 2 Hörner beginnen, eine Melodie folgt […]« Es erklang jedoch eine Rossini’sche Musik, aber Fannys Spannung (und anschließende Enttäuschung) muss umso größer gewesen sein, als auch Felix´ Bläserstück mit zwei Hörnern beginnt.

Aus einem Bläserstück entsteht die Ouvertüre für Harmoniemusik

Das ursprüngliche Bläserstück von 1826 besaß zwar keinen Titel (»Doberaner Blasmusik« und »Nocturno« sind spätere Zuschreibungen), aber es zog ein weiteres Werk nach sich. 1838/39 wurde es für »Vollständige Harmoniemusik« – ein Ausdruck, der inzwischen zu einem Synonym für Militärmusik geworden war – bearbeitet, genauer: für 23 Blas- und zusätzliche Schlaginstrumente. Beim Druck der Stimmen 1839 erhielt das Werk den Titel Ouvertüre für Harmoniemusik und die Opuszahl 24. Mit diesen Angaben folgte 1852 auch der Druck der Partitur, von der erst vor wenigen Jahren ein Exemplar in Dresden gefunden wurde (Abb. 4 und 5). 

Abb. 4: Ouvertüre für Harmoniemusik, Titelseite der Partitur, 1852 (SLUB Dresden), Abb. 5: Ouvertüre für Harmoniemusik, erste Notenseite der Partitur, 1852 (SLUB Dresden)

Im Kontext dieser Bearbeitung suchte Felix die Noten des ›alten‹ Doberaner Bläserstücks von 1826, wobei ihm Fanny behilflich war, die ja die Partitur seinerzeit nach Doberan gebracht hatte. Allerdings verlaufen alle ihre Bemühungen im Sande. Letztlich ist der Verbleib der von Fanny mitgebrachten Noten ungeklärt. Bode, der sie 1826 von Fanny erhalten hatte, verstarb 1832. Der Klarinettist Philipp Lappe, seit 1833 Mitglied der Doberaner Harmoniemusik, schrieb 1839 an Mendelssohn, er könne sich an nichts erinnern, die Musik sei ihm unbekannt und die Noten wären wohl »abhänden gekommen«.

Als Bläsermusik und als Blasmusik heute sehr populär

Vielleicht hat Felix die geringe Resonanz der ›Doberaner‹ Musik im 19. Jahrhundert vorausgeahnt. Jedenfalls machte er sich in einem Anflug humorvoller Selbstironie schon in einer Klavierfassung, die er Weihnachten 1838 für entfernt mit ihm verwandte Geschwister anfertigte, darüber lustig (Abb. 6): »DR. MENDELSSOHN’S / Grand! / Unknown and not celebrated / Ouverture for a Military Band! / never / performed at the Philharmonic! and other / Concerts!!!!« Im 20. und 21. Jahrhundert gelangte die ›Doberaner‹ Musik umso mehr zur Blüte. 

Abb. 6: Autographe Widmung der »Grand! / Unknown and not celebrated / Ouverture«, 1838 (Bodleian Library Oxford).

Es gibt inzwischen sehr viele Einspielungen, und auch in Konzerten wird die Musik recht häufig aufgeführt. Dabei ist bemerkenswert, dass beide Fassungen, die von 1826 für elf Bläser und die von 1839 (die Ouvertüre für Harmoniemusik op. 24) gleichberechtigt nebeneinander stehen. Schon Mendelssohn selbst hatte die Idee, auch die frühe Fassung als separates Werk zu publizieren. An der Frühfassung erfreuen sich heute eher Liebhaber der kleiner besetzten ›Bläsermusik‹, an der späteren solche der ›Blasmusik‹. Dies sollte berücksichtigt werden, wenn von »der« Doberaner Blasmusik die Rede ist. Und jenen Menschen, die enttäuscht darüber sind, dass Mendelssohn seine Bläsermusik nicht während seines Aufenthaltes in Doberan im Juli/August 1824 komponierte, kann tröstlich ans Herz gelegt werden: Ohne Doberan wäre die Musik niemals entstanden, und ob sie nun 1824 in Doberan oder 1826 für Doberan geschrieben wurde, erscheint angesichts der Hoffnung des Komponisten, »es möchten manche Leute Vergnügen daran haben«, vergleichsweise unwichtig.

Zum Anhören: hier die Fassung als „Ouvertüre für Harmoniemusik, op. 24“, mit dem hr-Sinfonieorchester unter Andrés Orozco-Estrada, vom 17. Juni 2021 aus der Alten Oper Frankfurt.

Alle Nachweise im Buch des Verfassers: »es möchten manche Leute Vergnügen daran haben« Felix Mendelssohn Bartholdys Ouvertüre für Harmoniemusik op. 24 oder: Doberan und die Folgen, Sinzig 2018.

Titelfoto: Doberan, Kamp und Musiktempel, Fest der Landleute, 1824 (Universitätsbibliothek Rostock)
Redaktion für den Kulturkompass-MV: Susanne Scherrer
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Achim Hofer, Prof. Dr. i.R., geb. 1955 in Oberhausen. Nach langen Jahren im Schuldienst lehrte er von 1999 bis 2020 Musikwissenschaft und Musikpädagogik am Campus Landau der Universität Koblenz-Landau (seit 2023 RPTU). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Bläser-, Blas- und Militärmusik. Er lebt im südpfälzischen Herxheim.

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