Narrenschiff auf Geisterfahrt

Eine Polemik

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von Reinhard Kuhlmann

Narrenschiffe haben offensichtlich Konjunktur. Seit dem späten Mittelalter zeigen sie sich wie auch heutzutage wieder als Realsatire auf Sitte und Moral. Der apokalyptische Kurs ist eine direkte Folge unqualifizierter, schlechter Führung. „Stehende Peilung“ führt die Geisterfahrt in die Totalkollision.

Jüngst wird von einer überschaubaren Riege vorwiegend älterer weißer Männer aus der SPD ein Kurzpapier vorgelegt, das nicht mehr und nicht weniger eine radikale Kehrtwende von Partei und Regierung in der Russland- und Rüstungspolitik einfordert. Es wird ein Bruch mit dem Paradigmenwechsel von 2023 eingefordert, der angesichts des Aggressionskrieges Russlands gegen die Ukraine sowie der bis dahin unangetasteten europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung als Fundament gemeinsamer Sicherheit längst überfällig war. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und der imperialen Zielsetzung der Vernichtung und Einverleibung eines souveränen europäischen Staates waren selbst für russlandfreundliche Beobachter die Grundlagen „gemeinsamer Sicherheit“ zerstört. Zumal sich die Selbstentblößung der Verteidigungsfähigkeit und Wehrhaftigkeit insbesondere Deutschlands in keiner Weise mehr rechtfertigen ließ. Abrüstung in vorauseilender Willfährigkeit bei gleichzeitiger verstärkter Rohstoffabhängigkeit führte in eine zumindest informelle Abhängigkeit, die bedrohlich wurde.

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Frontispiz des Narrenschiffes, vermutlich von Albrecht Dürer, wikimedia commans

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Zugleich öffneten sich Augen, die eine fortgesetzte imperiale Aggression Rußlands im Interesse einer territorialen Ausdehnung in die alten Grenzen der Sowjetunion erkannten und neu bewerteten. Der „alte Geist“ eines imperialistischen Großrusslands war da längst aus der Flasche. Die Blutspur russischer Aggression zog sich über Jahre von Tschetschenien über Georgien, über die Krim bis hin zu den Minsker Gesprächen und dem Überfall auf die Ukraine. Wichtig dabei ist, dass der Gesprächsfaden zu Russland währenddessen und bis heute nicht abgerissen ist. Gespräche, Besuche, Beschwichtigungen, Vereinbarungen prägen das wechselseitige Verhältnis des Westens, der europäischen Staaten und besonders auch Deutschlands zu Russland. Es ist ein ziemlich blutiger Gesprächsfaden, der die Kette der Aggressionen und die Ausdehnung Russlands begleitet. Zur Befriedung, zur Mäßigung, zum Interessenausgleich hat keines dieser Gespräche beigetragen. Ganz anders – diese Kontakte blieben Theater auf offener Bühne, Camouflage, hinter der sich planmäßig und systematisch das Konzept der Herstellung Großrusslands auch mit kriegerischen Mitteln durchsetzte.

Diese Blutspur hat kein Ende gefunden, das Konzept der Wiederherstellung Großrusslands hat kein Ende gefunden. Allen Opfern der territorialen Unterwerfung ist eines gemeinsam – ihre unzureichende oder nicht (mehr) existente Verteidigungsfähigkeit. Das und nur das ist die Bedingung von vorauseilendem Gehorsam und pazifistischer Unterwerfung.

Genau darum war und ist der Paradigmenwechsel von 2023 folgerichtig und richtig. Die Selbstverzwergung und Selbstunterwerfung aus Friedensliebe führt direkt in das Vasallenverhältnis zu Russland. Putins Russland versteht nur eine Währung: die der Stärke, der militärischen, wirtschaftlichen und technologischen Stärke. Deshalb war die Erkenntnis der Zeitenwende unter Kanzler Scholz notwendig, richtig und wichtig. Doch der weitere Verlauf der russischen Aggression in der Ukraine und die intensivierten Gespräche und Verhandlungen belegen die alte Erfahrung: „It takes two to Tango!“

An Gesprächen und Verhandlungsangeboten gegenüber Putins Russland hat es niemals gefehlt – bis in die allerjüngste Vergangenheit. Putin lässt das an sich abperlen. Ein desavouierendes Bild der Gespräche und Verhandlungen mit Putin hat sich zurecht in das öffentliche Gedächtnis eingebrannt. Kanzler Scholz „im Gespräch“ mit Putin an einem gefühlt endlosen Tisch. Am langen Arm verhungern lassen – aber endlos palavern. Und gleichzeitig die Übergriffe verschärfen.

Die Lehre ist eindeutig. Putins „Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft“ setzt die Anerkennung seiner Kriegsziele und die Unterwerfung des Opfers voraus. Genau deshalb ist es richtig, eine Position der Stärke herbeizuführen, aus der überhaupt Augenhöhe hergestellt werden kann.

Diplomatie bleibt herausragend wichtig, Gespräche und eben Verhandlungen auch mit Putins Russland haben ihre Bedeutung. Erfolg im Sinne „gemeinsamer Sicherheit“ können sie nur dann haben, wenn sie auf Augenhöhe aus einer Position der Stärke geführt werden. Und hierfür, genau hierfür ist das Programm der Bundesregierung zur Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit, zur Wehrhaftigkeit und zur Kriegstüchtigkeit unverzichtbar. Um es mit Walter Benjamin auszudrücken: „Wer aber den Frieden will, der rede vom Krieg!“

Der Kern des vorgelegten Pamphlets, etwas vollmundig und in großer Tradition „Manifest“ genannt, ist die Korrektur des Paradigmenwechsels von 2023. Aus heutiger Sicht muss man das wahrhaft einseitige Beschwören der Notwendigkeit einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung als ein wenig sehr naiv bewerten. Der Verzicht auf die angesichts russischer Expansionen notwendige Wiederherstellung unserer Verteidigungsfähigkeit ist geschichtsblind. Geschichtsklitterung wird daraus, wenn die Zerstörung der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung dem „Westen“ im Wesentlichen zur Last gelegt wird.

Das Pamphlet ist ein naiver und geschichtsklitternder Versuch, die Friedenssehnsucht der Deutschen, die Sehnsucht der Deutschen nach einem Ende des Krieges in der Ukraine, nach einem Ende aller Kriege, zu missbrauchen. Den Autoren ist bewusst: Nichts verbindet sich in Herz und Seele der Deutschen inniger als ihre Friedenssehnsucht! Und das auch historisch wie weltpolitisch aus guten Gründen! Nach zwei Weltkriegen, von Deutschen angetrieben, von deutschem Boden ausgehend, sind Frieden und Sicherheit, dabei entscheidend die Sicherheit der Grenzen in Europa, von überragender Bedeutung. Den Aggressoren muss das Handwerk gelegt werden, nicht den Opfern. Und wenn Friedensliebe in Unterwerfungspazifismus endet, dann haben Gewalt, Terror und Aggression gesiegt.

Auch der Zeitpunkt der Irrfahrt des Narrenschiffs verdient Aufmerksamkeit. Das Schriftstück ist nicht nur ein Frontalangriff auf den Erkenntnisfortschritt der SPD, insbesondere auf die realpolitische Erkenntnis, dass gegenwärtig kein Frieden mit diesem Putin-Russland, sondern nur gegen dessen imperiale und faschistoide Aggressionen möglich ist und trotz alledem mit Russland gesprochen werden muss!

Es ist auch ein Angriff auf die Regierungsfähigkeit der SPD, deren Mitglieder gerade den Koalitionsvertrag mit eindrücklicher Mehrheit gebilligt haben. Das „Manifest“ versteht sich allerdings in größter anzunehmender Bescheidenheit als Diskussionsbeitrag, so kurz vor dem Parteitag. Hoffentlich sind da nicht nur Unruhestifter unter sich, die Erfahrung der Ampel-Koalition lässt grüßen.

Das Pamphlet ist ein Frontalangriff gegen die Regierung.

Es ist ein Angriff auf die internationale Verlässlichkeit des Regierungshandelns und fördert das Misstrauen, gerade auch bei den mittel-, ost- und nordeuropäischen Nachbarn. Das Narrenschiff kann Episode bleiben. Die angestoßene Diskussion ist ebenso überfällig wie erfreulich. „Stehende Peilung“ ist kein Naturgesetz.

(Titelfoto: Narrenschiff, Ölbild Thomas Bühler, wikimedia commons)

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Reinhard Kuhlmann, IG Metall und SPD-Mitglied, ehemals: Vorstand und Arbeitsdirektor ThyssenKrupp Marine Systems, CEO Hellenic Shipyards, Generalsekretär Europäischer Metallgewerkschaftsbund, IG Metall – Grundsatzabteilung und Hans Böckler Stiftung – Forschungsförderung.

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