Helga Schubert präsentiert ihren neuen Erzählband „Luft zum Leben“
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Von Susanne Scherrer
Gleich drei neue Werke hat die Schriftstellerin Helga Schubert in der Pipeline. In 85 Lebensjahren hat sich soviel Stoff angesammelt, dass ihr die Ideen nie ausgehen werden, davon ist sie überzeugt. Als Nächstes erscheint der Erzählband „Luft zum Leben“ mit dem Untertitel: „Geschichten vom Übergang“. Daraus, und aus früheren Arbeiten trug Helga Schubert während der Schweriner Kulturnacht vor. Denkbar passendster Ort für eine Lesung: der Bibliothekssaal im Schweriner Schloss. Das Platzangebot war limitiert – und Helga Schuberts Schweriner Fangemeinde sowie Kulturnachtbesucher*innen mussten sich beeilen, um dabei zu sein. Weitere Termine in der Region werden folgen.
Um Übergänge geht es in ihrem neuen Band, der am 16. November im Berliner Renaissance-Theater vorgestellt wird. Mögliche Übergänge, so wie sie in einem Leben vorkommen „bis hin in die Unendlichkeit“, erklärt Helga Schubert. Einen einschneidenden Übergang für sie bedeutet der Tod ihres Mannes und Lebensmenschen, des Psychologie-Professors und Malers Johannes Helm vor wenigen Monaten.


Wer noch ein Exemplar ihres Bandes „Blickwinkel“ besitzt, erschienen im Aufbau-Verlag 1987, wird die Titelgeschichte „Luft zum Leben“ wiedererkennen. Es geht um die Rolle, die die Erzählerin als viel zu junge, unerfahrene und alleinverantwortliche Mutter übernehmen muss, und sich, festgebunden zu Hause, nach Freiheit sehnt. Und dann das viermonatige Kind allein zu Hause lässt und ins Theater geht. Luft zum Leben braucht. Und sich plötzlich, erschrocken, darüber klar wird: „Ein Kind, das hielt mich in der Welt“. In einer späteren Passage gibt ihr der abwesende Vater die Schuld an einer schweren Erkrankung des Kindes. Sie muss schmerzlich begreifen, dass der Sohn aber genau diesen Raben-Vater mag – weil die Alternative womöglich wäre, gar keinen Vater zu haben. Der Sohn findet Luft zum Leben im Wald, beim Bäume fällen. Und dann wird die „Luft zum Leben“ ganz konkret, als der Sohn seinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee ableistet, und die Gasmaske, die sich beim Rennen über die Sturmbahn an einem Pfropfen festsaugt, sich plötzlich nicht mehr vom Kopf lösen lässt.
Helga Schuberts Vortrag aus ihren Büchern braucht keine Moderation. Sie leitet erzählend über zur nächsten Geschichte. Das neue Werk liegt noch als Druckfahne auf dem Tisch. Ohne zu suchen, zieht sie die richtige Seite heraus, und zitiert das Motto, das ihrem neuen Band vorangeht: „Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.“ Rosa Luxemburg schrieb diesen Satz 1917 aus dem Gefängnis. Ein Motto zu haben, sei ihr wichtig, sagt die Autorin.
Judasfrauen – Denunziation in der Diktatur
Was sie zurzeit beschäftigt, ist die Frage, warum Diktatur erneut so „verführerisch“ wirkt. Sie liest dazu eine erschütternde Begebenheit aus ihrem Band „Judasfrauen“ vor, zehn dokumentierte Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich, 2021 neu erschienen. Der junge aufstrebende Pianist Karlrobert Kreiten wird wegen einer unbedachten Äußerung von einer missgünstigen Bekannten an die Gestapo denunziert und auf grausame Weise hingerichtet. Warum tat sie das, gerade als Frau? Helga Schubert will an diesen Beispielen die Unmenschlichkeit einer totalitären Gesellschaft noch deutlicher beweisen: „Sie musste es nicht tun.“ Auf die DDR rückblickend stellt sie lakonisch fest: „Ich wollte dieses System nicht ändern, ich wollte es überhaupt nicht haben“, und spricht über das Ausmaß an „Dummheit und Verschlagenheit“ der damaligen Staatslenker sowie über den logischen Gegensatz zwischen Diktatur und Literatur.


Helga Schuberts Sprache ist klar, schnörkellos, direkt. Sie beschreibt als ihre schwierigste, schwerste Arbeit beim Schreiben das Kondensieren, das Weglassen alles Überflüssigen. Sobald sie den letzten Satz einer Geschichte weiß, beginnt sie mit dem Schreiben, erzählt sie, und weil sie vorab alles im Kopf strukturiert hat, bedarf es keiner Änderungen. Anton Tschechow bleibt ihr großes Vorbild. „Solche Geschichten möchte ich schreiben können. Geschichten, in denen die Heldin erkennen kann, dass der Mensch arglistig ist, der Leser aber weiter daran zweifelt“, endet ihr Band „Blickwinkel“ von 1987.
Entscheidend: Mut und „Tauversicht“
Die Zuhörer*innen in der Schlossbibliothek sind fasziniert. Was macht ihre Geschichten heute so populär, die seit der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises 2020 in dichter Folge erscheinen oder wieder neu aufgelegt werden? „Es gibt immer einen Ausweg, eine Rettung, selbst in der scheinbar ausweglosesten Situation“, beschreibt Helga Schubert ihr Credo und appelliert an ihre Leser*innen, Zuversicht zu pflegen. „Mut“ und plattdeutsch „Tauversicht“ sind auf die beiden Tonkacheln geritzt, die bei jeder Mahlzeit neben ihrem und dem Teller ihres Mannes lagen. Der Pastor hatte sie ihnen geschenkt. Er erkannte, worin das Geheimnis von Helga Schuberts Literatur liegt: An sich zu glauben, eine noch so verzweifelte Situation mit Kraft, mit sehr viel Kraft, Mut und vor allem mit Glaube, Hoffnung und Liebe meistern zu können. Ganz wichtig: den Humor nicht vergessen.
Helga Schubert liest aus „Luft zum Leben“ am 23. November im Rostocker Literaturhaus. Eine weitere Lesung in der Region ist für 19. April 2026 in der Dorfkirche Groß Trebbow angekündigt.
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Titelfoto: Helga Schubert signiert in der Bibliothek des Schweriner Schlosses. Fotos: ©Ute Neumann (2), ©dtv Verlag (3), ©Susanne Scherrer (1,4,5).

Susanne Scherrer, studierte Dipl.Pol., forscht zur Familie Mendelssohn, übersetzt aus dem Ungarischen, vermittelt und unterstützt Literatur, Konzert- und Kunstevents. Lebt in Schwerin.