Klang als atmender Organismus

Justė Janulytės monochrome Musik

In Folge VIII der „Perlen der Ostsee – eine musikalische Schatzsuche” porträtiert Til Rohgalf die litauische Komponistin Justė Janulytė.


Geboren und aufgewachsen ist Justė Janulytė in Vilnius. Hier begann sie auch ihr Musikstudium. Am Mailänder Konservatorium studierte sie Komposition. In der italienischen Metropole arbeitet und lebt die 37-jährige Künstlerin auch heute noch. Sie gehört zu den bedeutenden zeitgenössischen Komponistinnen Litauens. Ihre Musik ist tief verwurzelt in der reduktiven Musik des Baltikums: langsame, quasi-rituelle Prozesse, wenige harmonische Materialien, viel Raum, Stille und Licht und die Klangfarbe als Hauptparameter. 

Einer der Wegbereiter des litauischen musikalischen Minimalismus und Pionier einer „rituellen“ Musik, Bronius Kutavičius, gehörte zu Justė Janulytės Lehrern. „Monochrom“ ist ein zentrales Attribut, wenn Justė Janulytė ihre Musik beschreibt und deren Klanglichkeit skizziert: sehr langsame Tempi, sehr graduelle Veränderungen im Klang, häufig homogene oder gleichartige Besetzungen (z. B. nur Streicher, nur Bläser oder nur Stimmen). Ihre Kompositionen bewegen sich irgendwo zwischen Minimalismus, Elektroakustik und Spektralmusik. Komponist*innen wie György Ligeti oder Kaija Saariaho können als grober Referenzrahmen dienen. Diese Komponisten hatten in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts das „Klangwerden“ zum Zentrum ihres musikalischen Schaffens gemacht.

 Justė Janulytės (Foto© Florian Ganslmeier)

Es überrascht nicht, dass eines der jüngeren Werke Janulytės, „Iridescence“ (2023), von Ligetis wichtigem Choralwerk „Lux aeterna“ inspiriert ist, wie die litauische Komponistin betont.  Sie schrieb es als Auftragswerk zum 100. Geburtstag des ungarischen Komponisten. „Iridescence“ vereint zentrale Elemente von Janulytės Kompositionen: Das etwa 16-minütige Stück für Chor und Elektronik kommt ohne Brüche daher. Eng verwoben und intervenierend ergibt der vielstimmige Chor eine monolithische Klangschicht. Die Musik mag klangfarblich monochrom wirken, statisch ist sie nicht: Wie in Zeitlupe verändern die Stimmen in kontinuierlichen Glissandi ihre Tonhöhen im mikrotonalen Spektrum und erschaffen mit ihrer „mikroskopischen Polyphonie“ einen wellenartigen, schwebenden Höreindruck. Der Chor variiert in kaum wahrnehmbaren Schritten in Intensität und Lautstärke.

Die verwendete Live-Elektronik moduliert das Klangerlebnis des Chores während der Performance und lässt ihn im Raum „wandern“. Hierfür arbeitete Justė Janulytė mit dem IRCAM (auf Deutsch: Institut für Akustik/Musik-Forschung und -Koordination) zusammen. Das weltweit führende Forschungszentrum für Musik, Akustik und Klangtechnologie wurde 1977 in Paris von Pierre Boulez gegründet und es entwickelt neue Methoden zur Klangverarbeitung, räumlichen Akustik und elektronischen Komposition. Bei „Iridescence” verarbeitet das IRCAM-Modul Stimmen in Echtzeit, verändert ihre Klangfarbe und verteilt sie über Lautsprecher, sodass der Hörer sich in einem schimmernden, sich wandelnden Klangfeld befindet. Dadurch entsteht der Eindruck von Licht, das sich in Klang verwandelt – eine akustische Entsprechung der Irideszenz (Farbenschillern). 

Das IRCAM fungiert somit als technologischer und ästhetischer Partner, der Janulytės Vision von „lebendigem, atmendem Klanglicht“ realisiert. Das gesamte Werk wirkt, für Janulytės Musik typisch, meditativ und sphärisch, durch die Bewegung der Stimmen und Farbwechsel aber gleichzeitig dynamisch. Es ist wie ein gleichmäßig pulsierender Organismus, der bei seiner langsamen Transformation beobachtet wird. Nicht zufällig ist die Natur für die Künstlerin eine zentrale Inspirationsquelle. 

Neben dem Titel „Iridescence“ bezeugen auch andere Namen ihrer Werke wie „Observing Clouds“, „Silence of the Falling Snow“ oder „Elongation of Nights“ die Bedeutung von Naturbeobachtungen in geradezu romantischer Tradition. Die Dualität von Zeitlichkeit, die vielen natürlichen Prozessen zu eigen ist, spielt auch in Janulytės Kompositionen eine wichtige Rolle: Das zyklisch Wiederkehrende findet sich insbesondere auf der Mikroebene ihrer Werke, auf der Ebene der einzelnen Stimmen, in Form von loopähnlichen Strukturen wider, die Janulytė kanonartig übereinander schichtet. Im Kontrast hierzu findet die Transformation als zweite Form

Justė Janulytės (Foto: © Dmitrij Matveje 2012)

natürlicher Zeitlichkeit insbesondere auf der Makroebene ihrer Werke statt – sich langsam wandelnde Klangfarben, Dynamiken oder Arrangements. 

Oft begleiten lyrische Texte Janulytės Werke und sie sind auch Textgrundlage für Chorwerke, wie bei „Iridescence” das Gedicht „Star Hole” von Richard Brautigan. Justė Janulytė reduziert die Worte zu Vokalfolgen – reinem Klangmaterial –, um die schwebende Wirkung ihrer Musik nicht durch konsonantische Artikulationen zu stören. Die Langsamkeit von Justė Janulytės Musik, ihre Ereignisarmut, kann Hörgewohnheiten herausfordern. 

Dennoch: Die Komponistin denkt das Klangerlebnis mit. Ihre Werke sind keine akademischen Kopfgeburten oder hermetische Experimente. Justė Janulytė sucht nach größtmöglicher Klarheit und Reinheit des Klanges, nach der Reduktion auf eine musikalische Essenz und Einfachheit. Der kontemplative, tranceartige Charakter ihrer Werke entfaltet nicht selten eine cineastische Komponente. Die Musikerin arbeitet auch regelmäßig mit Künstler*innen zusammen an audiovisuellen Performances.

Vielleicht ist es die Rücksicht auf das Klangerlebnis, die dazu geführt hat, dass Justė Janulytė mittlerweile eine auf europäischen Bühnen auch außerhalb Litauens gern gespielte Komponistin ist. Ihr Stück „Sandglasses“ machte sie 2007 bekannt und das Werk wurde im Dezember 2013 im Rahmen des Kulturprogramms der litauischen EU-Ratspräsidentschaft in Brüssel aufgeführt. Fraglos bietet Justė Janulytės stille, hyperfokussierte und letztlich zeitlose Musik einen entschleunigenden Kontrapunkt in einer schwindelerregend schnelllebigen Gegenwart.

Titel: Justė Janulytės Foto: © Gedmantas Kropi

.

Til Rohgalf studierte Sonderpädagogik, Philosophie und Geschichte (M.A.), er ist im Schuldienst tätig, musikbegeistert und musikalisch aktiv. Ihn interessieren politische, kulturelle und geistesgeschichtliche Themen.
Sie möchten auf eine Veranstaltung aufmerksam machen?
Nutzen Sie unseren Event-Kalender: https://www.kulturkompass-mv.de/veranstalter/
Sie möchten ihre Meinung sagen? Mail an: info@kulturkompass-mv.de

Verwandte Beiträge