Hildegard von Bingens Musik vom Scivias-Trio zeitgenössisch interpretiert
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von Til Rohgalf
Hildegard von Bingen (1098–1179) war eine der herausragendsten Frauen des Mittelalters – eine Benediktinerin, Mystikerin, Universalgelehrte und nicht zuletzt eine der frühesten bekannten Komponistinnen der westlichen Musikgeschichte. In einer Zeit, in der Frauen kaum Gehör fanden, schuf Hildegard über 70 liturgische Gesänge und ein geistliches Musikdrama (Ordo Virtutum).
Das Scivias-Trio übersetzt Hildegard von Bingens musikalisches Werk in eine zeitgenössische Klangsprache. Nach Konzerten im vergangenen Jahr spielt das Trio im September auch wieder in Mecklenburg-Vorpommern.
Seit 2005 hat das Ensemble ein unverkennbares Profil entwickelt. Der polnische Klarinettist Wacław Zimpel, Gründungsmitglied des Trios, verließ 2018 das Projekt, um andere musikalische Pfade zu betreten. Annette Maye, international bekannte und angesehene Klarinettistin aus Köln, ersetzte ihn. „Ein riesiger Glücksfall“, wie Sängerin Ute Kaiser im Interview mit dem Kulturkompass betont. Zum Trio gehörte von Beginn an der Perkussionist Klaus Kugel, ein gefragter Jazz-Schlagzeuger, mit dem Ute Kaiser bereits seit 25 Jahren zusammen Musik macht.
Auch Ute Kaiser hat sich einen Namen gemacht als Sängerin, Schauspielerin und Sprecherin. Mit Jazz-Musiker*innen setzte sie jahrelang literarische Konzertformate um. Sie ist darüber hinaus auch als Hörbuchproduzentin und Gesangspädagogin tätig. Für sie sind die tiefen künstlerischen Freundschaften, die sie mit Klaus Kugel und Annette Maye verbinden, essentiell für die Musik des Scivias-Trios: „Bei unserer Art von Kunst geht es viel um gegenseitiges Vertrauen.“
Ute Kaiser beschäftigt sich seit 20 Jahren mit den verschiedenen Facetten von Hildegard von Bingens Schaffen und ist beeindruckt von der erfahrbaren, aber kaum in Worte zu fassenden spirituellen Kraft ihres Wirkens. Auch der Name „Scivias“ verweist auf ein frühes Werk Hildegard von Bingens, in dem „neben ihren Visionen auch wunderbare Bilder ihrer Eingebungen zu finden sind. Diese sind erstaunlich und faszinierend und weisen auf große Zusammenhänge von Mensch, Natur, Umwelt und Kosmos hin. Sie sind vielleicht viel moderner und umfassender, als man gemeinhin denken könnte. Sie haben etwas Zeitloses. Wie auch Hildegards Kompositionen.“ Die Mystikerin selbst verwendete auch den Namen „Symphonia Armonie Celestium Revelationum“ (dt. „Symphonie der himmlischen Offenbarung“).
Ihre Musik wurde in einer eigenen Notation überliefert und bewegt sich – im Kontrast zu vielen anderen bekannten Kompositionen aus dieser Zeit – jenseits starrer Regeln: Sie ist frei, schwebend und oft ekstatisch – und gerade deshalb wirkt sie heute erstaunlich modern. „In ihrer Musik schwingt eine Kraft, die 1000 Jahre überdauert hat und ungebrochen ihre Strahlkraft entfaltet“, findet Ute Kaiser. Für sie habe die Auseinandersetzung mit Hildegard von Bingens Musik, Melodien und den alten lateinischen Texten immer auch etwas „Erfrischendes, Aufbauendes und Nährendes”.
Auch wenn moderne Forschungen die Frage erörtern, ob Hildegards Visionen Ausdruck schwerer Migräne oder der Vergiftung mit dem damals weit verbreiteten Mutterkorn sein könnten – an der Wirkung ihres Schaffens auf viele heutige Rezipient*innen ändert das nichts.
Als Vokalistin sei Ute Kaiser diejenige, die am dichtesten an den Originalkompositionen bleibe. Annette Maye baue hierauf mit ihren Klarinetten auf, während Klaus Kugel mit schwebenden oder treibenden Rhythmen, mit Gongs oder diversen Klangobjekten eine Atmosphäre schaffe, die als musikalisches Bindeglied diene, meint Ute Kaiser. Das Scivias-Trio ist aber alles andere als eine Hildegard-von-Bingen-Coverband. Originalkomposition und Instrumentierung fungieren, wie Ute Kaiser erklärt, vielmehr als „unsere Ausgangsbasis für Improvisation oder auch unsere eigenen darauf abgestimmten Kompositionen. Ein recht komplexes Zusammenspiel von sehr alter und sehr moderner Musik.“ Die ungewöhnliche Instrumentierung sei dabei natürlich entstanden und ein organischer Bestandteil ihres künstlerischen Schaffens. „Wir können sozusagen nicht anders.“
Obgleich das Trio regelmäßig live aktiv ist, gibt es mit dem Track „Spiritus Sanctus” bisher erst eine Studio-Veröffentlichung. Diese Single wurde international in Radios gespielt und soll, so verspricht Ute Kaiser, nicht die letzte Veröffentlichung sein.
Im Rahmen des Projekts „Dorfkirche Mon Amour“ wird es in diesem Jahr nur ein Konzert des Scivias Trios in Mecklenburg-Vorpommern geben.
Am 12. September spielen die drei Musiker*innen ab 18 Uhr in der „Vietlübber Arche”, einer vom NABU genutzten Kirche in der Nähe von Plau am See . Der imposante neugotische Bau wird nicht mehr für Gottesdienste genutzt. Es haben sich mehrere Fledermausarten eingenistet und im Turm fühlen sich Dohlen und Turmfalken zu Hause. Ein Ort wie gemacht für Musik der Hildgard von Bingen, denn ihr Werk ist von der Suche nach der Einheit von Natur und Religiosität geprägt.
Titel v.l.n.r.: Klaus Kugel (Foto: @ Kostyantyn Smolyaninov) Ute Kaiser (Foto: @ Jörg Kronenberg) Annette Maye (Foto: @ Yoshi Toscani)
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