Marie Jeschkes „Unterwasser-Recordings“ spüren der deutsch-deutschen Geschichte in der Ostsee nach
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Von Til Rohgalf
Erinnerungskulturelle Ansätze der besonderen Art sind ab morgen in der Dokumentations- und Gedenkstätte in der ehemaligen Untersuchungshaft der Staatssicherheit in Rostock zu sehen. In Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Rostock wird der Ort zum Interaktionsfeld zeitgeschichtlicher Spuren und zeitgenössischer Kunst. „Fluide Grenze“ heißt die Ausstellung der Künstlerin Marie Jeschke. Bereits der Titel verweist auf die unsichtbare, „flüssige“ Grenze im ehemals geteilten Deutschland.
Die Schau zeigt side-specific Videos, Installationen und Malerei, die im Zuge diverser Tauchgänge der Künstlerin entlang des Grenzstreifens in der Ostsee entstanden sind. Dabei geht die 1982 in Rostock geborene Marie Jeschke der Frage nach, inwiefern das Meer ein (historischer) Informationsspeicher ist. In ihren „Unterwasser-Recordings” verwendet die Künstlerin auch Leinwände, die sie unter Wasser positioniert. Durch ihre Arbeitstechnik versucht sie, die sichtbaren und unsichtbaren Spuren des Wassers festzuhalten – als eine Art Protokoll der Begegnung zwischen ihr und dem Gewässer. Ihr eigener Körper dient in diesem Prozess als Werkzeug. Erst beim Trocknen sieht Jeschke, was die Farben, Pflanzenreste und andere Stoffe aus der Umgebung hinterlassen haben.
Im Interview mit dem Kulturkompass M-V gab Marie Jeschke Einblicke in ihre Arbeitstechniken und Werke, die in Rostock zu sehen sind.
Der Ausstellungstitel verweist, so die Künstlerin, auf eine Videoarbeit, die im Sommer 2024 auf der Ostsee entstanden sei und in der man sie auf einer schwimmenden Leinwand sieht, die zugleich als eine Art Floß diene. Hierfür ist sie von der ehemaligen DDR-Ostseeküste in Richtung Dänemark getrieben. Für ihre aktuellen Arbeiten hat sich Jeschke intensiv mit den ertrunkenen Fluchtopfern auseinandergesetzt, die beim Versuch, die nasse Grenze der ehemaligen DDR zu überwinden, ihr Leben verloren. Das Fluide der Grenzen, die Frage danach, wo das „andere Land“ begonnen habe, beschäftige sie.
Die Konzeption der Ausstellung in Rostock sei dabei untrennbar mit der historischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung an diesem Ort verbunden. Der Kontakt zur Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock habe sich durch ihre enge Zusammenarbeit mit der Historikerin Dr. Jenny Linek ergeben: „Wir pflegen einen intensiven Austausch über die Grenzbereiche von Wissenschaft und Kunst, die sich berühren und gegenseitig benötigen. Genau aus der Frage, wie dieser gemeinsame Raum von Erinnerungskultur und zeitgenössischer Kunst sichtbar gemacht werden kann, ist die Idee zur Ausstellung entstanden. Und wo ließe sich das besser realisieren als an einem authentischen Erinnerungsort selbst?“

Was kann Kunst erinnerungskulturell im ehemaligen „Stasi-Gefängnis” leisten, was Quellen und Dokumente nicht können? „Was Kunst kann oder nicht kann, möchte ich nicht pauschal beantworten“, führt Marie Jeschke aus: Für sie gehe es jedoch um tiefgreifende Verschiebungen in der Wahrnehmung. Diese Verschiebungen betreffen nicht nur den Besuch von Gedenkstätten, in denen neben Schwarz-Weiß-Fotografien und langen Erklärungstexten plötzlich zeitgenössische Werke erscheinen. Sie berühre ebenso die Kunst selbst und ihre sogenannten „neutralen“ Kunstorte, an denen sie häufig losgelöst von ihrer Umgebung betrachtet werde. Die Verbindung eines Erinnerungsortes – wie der Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock – mit einem Kunstort erweitere den Fokus und die Reichweite nach ihrer Einschätzung erheblich. Entsprechend entschied sich Marie Jeschke gegen eine Schau in dem klassischen „white cube“ eines Kunstmuseums.
„Kunst kann dort ansetzen, wo Dokumente enden, indem sie die Vermittlung von Geschichte hinterfragt: Wer wird als Opfer, wer als Täter dargestellt? Wer erhält die Deutungshoheit über die Geschichte? Sie beleuchtet die physischen Spuren des Ortes: Was ist erhalten geblieben, wie wurde nach Schließung der Haftanstalt eingegriffen, und welche Zeitschichten überschneiden sich hier?“ Kunst fungiere als „emotionaler Katalysator“, sie biete einen emotionalen Zugang, der über die reine Information hinausgeht und die subjektive, gefühlte Dimension der Geschichte erfahrbar macht.
Ihr Zugang zu den Ostsee-Fluchtrouten sei nicht primär über Artefakte oder historische Zeugnisse entstanden. Es seien vielmehr Kindheitserinnerungen und verschüttete Gefühle, die sie antrieben: „Mit meiner künstlerischen Arbeit möchte ich die Geschichtsforschung der deutsch-deutschen Vergangenheit weder ergänzen noch kommentieren.“ Im Zentrum ihrer Arbeit stehe die direkte, physische Auseinandersetzung mit dem Wasser selbst. Dennoch habe sie sich auch intensiv mit den jüngsten Forschungsergebnissen der Gruppe um die Historikerin Dr. Jenny Linek aus Greifswald auseinandergesetzt. „Ihre rechercheaufwendigen Ergebnisse zu den 135 eindeutig tödlich umgekommenen Menschen auf der Flucht über die Ostsee berühren mich tief“, sie seien Ausgangspunkt gewesen für die zwei speziell im Rahmen der Ausstellung entstandenen Werke.
Der Tod auf der Fluchtroute über das Meer ist seit einigen Jahren wieder zu einer regelmäßig erschütternden Nachrichtenmeldung geworden, zu menschlichen Schicksalen, die auch Fragen nach der Gegenwartsrelevanz von Marie Jeschkes Werk aufwerfen: „Ich bin froh, dass Sie den Bezug zur Gegenwart herstellen.“ – Marie Jeschke gibt zu, nach passenden Worten zu ringen: „Es berührt, festzustellen, dass es heute wie auch zwischen 1961 und 1989 hauptsächlich junge erwachsene Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren sind, die sich diese extrem gefährliche Flucht zutrauten und bis heute zutrauen. Auch die Art und Weise, große Gewässer unbeobachtet zu überqueren, ist oft dieselbe geblieben: in kleinen Gruppen mit Schlauchbooten oder schwimmend.“ Insofern sei auch eine ihrer gezeigten Videoinstallationen von erschlaffenden Schlauchbooten – losgelöst von ihrem Kontext – auf andere Meere der Welt übertragbar.
Marie Jeschke resümiert bescheiden, aber bestimmt: „Kunst kann nicht die Politik ersetzen, geschweige denn zu Rettungsbootflotten werden. Ihre Stärke liegt in der Schaffung von Resonanzräumen.“
Die Ausstellung „Fluide Grenze“ mit Werken von Marie Jeschke ist vom 26. November 2025 bis 30. April 2026 in der Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock zu sehen.
Titelfoto: Marie Jeschke Videostil, Die Drift I, 2025, @Marie Jeschke
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