Die Metamorphosen des Klanges

Die litauische Pianistin und Komponistin Gailė Griciūtė stellt in Folge VII unserer Reihe „Perlen der Ostsee” Til Rohgalf vor.

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Eine Klangperformance für präpariertes Klavier, Tonbandgerät, Radio und Stimme: Gailė Griciūtė erkundet in ihrer aktuellen Veröffentlichung Dark Elastic Liquid (2024) die Fluidität des Klanges – wie er sich bewegt, verwandelt und in Beziehung mit der Umgebung tritt. Es ist ein Lied über vibrierende Luft, über die Bewegungen der Haarzellen tief in der Hörschnecke.

Gailė Griciūtė studierte Klavier und Komposition in Litauen und Deutschland. Sie schreibt Werke für Orchester, für kleinere Ensembles, und sie nutzt erweiterte Klangquellen, wie u. a. manipulierte Tonbänder. Bis heute ist ihr Hauptinstrument das präparierte Klavier. Sie lebt und arbeitet in Litauen.

In dem etwa halbstündigen akustischen Exkurs Dark Elastic Liquid greift Gailė Griciūtė zurück auf das Konzept des Klanges als „ätherisches Feuer“, wie es der französische Biologe Jean-Baptiste Lamarck im 18. Jahrhundert entwickelte.

Dark Elastic Liquid sei aus ihrer Faszination für Lamarcks Beschreibung des Klangs in seiner Schrift Über die Materie des Schalls entstanden, führt sie aus. Er stimmte der Wellentheorie zu, erkannte aber, dass sich Schall nicht nur in Luft, sondern auch in Flüssigkeiten und Festkörpern ausbreitet. Daraus schloss er, dass es neben der Luft noch eine eigene Materie des Klangs geben müsse: ein „ätherisches Feuer“, das selbst durch dichte Medien hindurch Erschütterungen weiterträgt, bis tief in den Hörnerv hinein.

„Mich interessiert daran vor allem die Vorstellung des Klangs als etwas Bewegliches, Veränderliches, das in Beziehung tritt – zur Quelle, zum Raum, zur/zum Hörer*in.“

Gailė Griciūtės bei der Performance A Tune in Tune (Foto: @ Alanas Gurinas)

Dabei passe sich Klang an, werde reflektiert, absorbiert, verändere Form und Richtung, werde zu Nervensignalen, zu Gefühl und Interpretation. „Diese Fähigkeit zur ständigen Metamorphose erinnert mich an den griechischen Wassergott Proteus, der seine Gestalt unendlich wandeln kann.“ Gailė Griciūtė verweist dabei auf den litauischen Philosophen Kristupas Sabolius, der Proteus nicht als jemanden beschreibe, der sich in etwas verwandele, sondern als das Prinzip, das allem innewohnt: „Jeder Löwe, jeder Baum, jedes Wasser ist schon Proteus, weil in seiner Entstehung bereits sein Wandel und sein Vergehen angelegt sind.“ Auch Klang existiere nur in Beziehung. Er werde erst wirklich, wenn er auf etwas treffe, wenn er in Resonanz trete. Dunkle elastische Flüssigkeit, das beschreibe für sie nicht nur den physikalischen Vorgang, sondern eine Haltung: dunkel, weil unsichtbar; elastisch, weil wandelbar; flüssig, weil grenzenlos. Wer hierbei an Heraklit erinnert wird, liegt wohl nicht ganz falsch: „Klang erinnert uns daran, dass alles in Bewegung ist, dass wir unaufhörlich in Strömungen stehen, die uns formen – selbst wenn wir sie nicht sehen.“

Auch in anderen musikalischen Werken und in ihrer Dissertation beschäftigt sich die litauische Künstlerin mit der Klangkunst als „eine Praxis des anderen“, wie sie es formuliert: Sie erforsche den Hörprozess aus physischer, psychologischer, kultureller und philosophischer Perspektive und zoome auf die Problematik der Wahrnehmung. Sie interessiere dabei insbesondere die ständige Wandlung und Interaktion des Klanges – eine „Art des Seins“, die verbinde, sich anpasse und reflektiere als Gegenkonzept zu klarer Definition und Separation.

Ihre holistische Sicht auf das Phänomen „Klang“ entwickelte sie u. a. aus den eigenen Erfahrungen mit der Improvisation – die, wie Gailė Griciūtė betont, in einer Phase ihrer kreativen Praxis eine große Rolle gespielt habe: „Während des Improvisierens spielte ich anstelle von Harmonien Texturen, anstelle von Rhythmus begann ich, über organische Strukturen nachzudenken, die nie symmetrisch sind. Ich fragte mich, wie zum Beispiel Schnee, der im heißen Kaffee schmilzt, sich in eine Form von Klang verwandeln könnte.” Improvisation habe ihr zudem ermöglicht, sich beim Spielen auf die körperliche Dimension des Klavierspielens zu konzentrieren, wo „zwei Körper in einem dynamischen Austausch von Gewicht und Berührung aufeinandertreffen“.

Die Nutzung von Tonbändern – oft mühsam auseinandergeschnitten und neu zusammengeklebt – ist ein wichtiger Bestandteil in Gailė Griciūtės Musik. Der Rückgriff auf das analoge Medium hat für die Künstlerin sowohl klangliche als auch kompositorische Gründe: „Ich liebe den Frequenzbereich und das analoge Rauschen, ich benutze oft Bandmaschinen als Mischwerkzeug. Auch schätze ich die physische Interaktion, wenn ich mit Tape arbeite. Anstatt stundenlang auf den Computer zu schauen, arbeite ich mit meinen Händen, ich mariniere, koche, schneide und klebe, rolle und kratze das Tape. Die physische Interaktion und die Zeit sind für mich ein wichtiges Element. Ich mag es, zu untersuchen, wie ich durch das Eingreifen in das ablaufende Band mit meinem Körper mit Zeit und Tonhöhe spielen kann. Der Klang wird physisch durch das Material des Bandes verkörpert und ich kann mit ihm interagieren, indem ich meinen eigenen Körper benutze.“

Gailė Griciūtė hat bereits eine ganze Reihe von reinen Tape-Arbeiten veröffentlicht, so das aktuellste Werk Wrathful Marie (https://soundcloud.com/gailegriciute/wrathful-marie).

In der Frühphase ihres musikalischen Schaffens verbrachte die Künstlerin ein Jahr im wenig zugänglichen Königreich Bhutan und arbeitete dort als Klavierlehrerin für westliche klassische Musik. Wenn sie sich auch von der dortigen buddhistischen Musiktradition kaum beeinflusst fühlt, so erinnern die Titel älterer Stücke dennoch an diesen Aufenthalt: „Zum Beispiel wurde das Stück Thangtong Gyalpo (2016) von diesem alten buddhistischen Yogi, Architekten und Ingenieur Thangtong Gyalpo inspiriert. Er sammelte Geld, indem er die ersten tibetischen Opern organisierte, um Hängebrücken über Flüsse zu bauen, die die Kommunikation zwischen Dörfern erleichtern. In meinem Werk Thangtong Gyalpo für Sinfonieorchester untersuche ich den Zustand der Instabilität und des Übergangs, wo Melodie, Harmonie und Rhythmus zu einer Textur werden.“

Chant (2014) basiere dagegen auf dem bekanntesten buddhistischen Text, dem Herz-Sūtra, der das Verhältnis zwischen Form und Leere beschreibe.

Neben ihrem Schaffen als Solo-Künstlerin und Komponistin kollaboriert Gailė Griciūtė u. a. mit der litauischen Bildhauerin Viktorija Damerell (* 1992) im Projekt Eye Gymnastics: „Wir experimentieren auf den Gebieten Musik, Stimme, Text und visueller Sprache. Unsere gemeinsamen Erkundungen kombinieren hypnotische Texte mit Elementen der barocken Oper, Pop-Beats, sinnlicher Sprache und Musik, die mit umgebauten Spielzeugen durchzogen ist“, erzählt die Musikerin.

Gailė Griciūtės (* 1985) Schaffen ist ein Exkurs zwischen theoretischer Hermetik und unmittelbar sinnlich erfahrbaren Soundscapes. Wer sich auf ihre Kompositionen einlässt, deren Texturen erforscht und die Suche nach festen Strukturen aufgibt, wird fraglos belohnt.

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Titelfoto: Gailė Griciūtės bei der Performance duo Eye Gymnastics, @ Laurynas Skeisgiela

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Til Rohgalf studierte Sonderpädagogik, Philosophie und Geschichte (M.A.), er ist im Schuldienst tätig, musikbegeistert und musikalisch aktiv. Ihn interessieren politische, kulturelle und geistesgeschichtliche Themen.
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