Das Ausweichen vor dem Trauma 

„Die Ausweichschule“ – ein Roman von Kaleb Erdmann

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Von Christian Franke 


2002 geschieht in Erfurt etwas, das man bisher nur aus Schreckensmeldungen jenseits des Atlantiks kannte. Am Gutenberg-Gymnasium erschießt der ehemalige Schüler Robert Steinhäuser 16 Menschen und am Ende sich selbst. Ein Ereignis, das vor allem bei den Betroffenen tiefe Spuren hinterlassen hat. Kaleb Erdmann erlebt dies als 11-Jähriger hautnah und in seinem autofiktionalen Roman hadert er mit der literarischen Verarbeitung seiner Erlebnisse. Kaleb Erdmann wurde 1991 in Witten geboren. Er studierte Politikwissenschaften und Literarisches Schreiben. Heute arbeitet er als Schriftsteller, Dramatiker und Bühnenpoet.

Der Roman

Zwanzig Jahre später steht der Erzähler, selbst ein Autor, im telefonischen Kontakt mit einem Dramatiker. Dieser will für ein Bühnenstück den Amoklauf in Erfurt aufarbeiten. Der Erzähler beschreibt seine Erfahrungen während der Tragödie und in den darauffolgenden Jahren an der Ausweichschule. Er reflektiert in Zwischenstücken seine Bemühungen, die Ereignisse literarisch zu verarbeiten. Dazu vertieft er sich in einen Kaninchenbau, recherchiert, zieht offizielle Berichte und andere literarische Werke heran. Er fragt sich: Wie kann man über eine Katastrophe schreiben, ohne voyeuristisch zu sein? Wie zuverlässig sind die eigenen Erinnerungen? Bin ich wirklich persönlich betroffen? Der Erzähler führt einen inneren Kampf mit seinen Erinnerungen, Zweifeln und der Möglichkeit, dass Wunden wieder aufreißen.

Die Erinnerungen des 11-jährigen Erzählers muten zunächst an, als sei er ein unbeteiligter Beobachter, während seine Klassenkameraden sichtbare Traumata davontragen. Doch es zeigt sich, dass auch der Erzähler tiefe Narben davongetragen hat, die erst durch die intensive Beschäftigung und Erinnerungen wieder aufbrechen. Der Roman ist weniger ein weiterer Bericht über den Amoklauf, sondern er greift thematisch und motivisch das Erinnern und Hadern mit dem Umgang des Unsagbaren auf.

Kaleb Erdmann auf dem Erlanger Poet*innenfest 2025 (Foto: @Amrei-Marie, wiki commons)

Die innere Zerrissenheit und Unsicherheit des Erzählers findet sich neben der inhaltlichen Auseinandersetzung auch in der formalen Gestaltung. Die Kapitel springen zwischen Zeitebenen und Perspektiven. Sie erlauben es den Leser*innen nach Schilderungen von Erlebtem gemeinsam mit dem Erzähler metaperspektivisch auf das Vorige zu blicken.

Die Sprache des Romans ist ebenso von jener inneren Zerrissenheit geprägt wie die Form. So finden sich Abschnitte, die eher in einem fast nüchternen und dokumentarischen Ton gehalten sind, als auch poetisch verdichtete Reflexionen. Dieser Wechsel erzeugt eine Dynamik, die das Gefühl der inneren Suche verstärkt.

Fazit

„Die Ausweichschule“ ist weit mehr als ein Bericht über den Amoklauf von Erfurt – es ist ein vielschichtiges Werk über das Erinnern, das Verdrängen und die Kraft der Literatur, auch das Unsagbare greifbar zu machen. Wer sich auf diesen Roman einlässt, begegnet nicht nur einer schmerzhaften Vergangenheit, sondern auch der Hoffnung, dass geteilte Erinnerungen verbinden und heilen können.

Am 21. Oktober 2025 kommt Kaleb Erdmann im Rahmen der Literaturtage nach Schwerin. Um 19:30 Uhr im Kulturforum Schleswig-Holstein-Haus, Puschkinstraße 12. Eintritt: Abendkasse: 14,00 € / Vorverkauf: 12,00 €*

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Christian Franke studierte Philosophie und Germanistik, ist im Schuldienst tätig und interessiert sich für Literatur, Philosophie und Musik.

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