Christoph Hein: Das Narrenschiff

Großes Panorama

von Matthias Lange

Ein Begriffspaar wie Aufstieg und Fall ist mit großer Historie verbunden, umfasst gewaltige Zeiträume, beschreibt tatsächlich durchgreifende Geschichten von Wachstum und Vergängnis. Im Falle der vor dreieinhalb Jahrzehnten endenden Existenz der DDR täte man sich vermutlich schwer mit derlei Maßstäben – als zu tönern erwiesen sich die Füße, auf denen sie vermeintlich fest zu stehen schien, zu prekär waren ihre späten Jahre, ökonomisch, politisch und in der wachsenden Distanz der greisen SED-Führung sowohl zum Moskauer Wandel als auch mit Blick auf die rapide nachlassende Integrationskraft der immer trister werdenden sozialistischen Realität.

Dabei schienen die Anfänge einst so verheißungsvoll: Nach dem Ende des Nationalsozialismus‘, mit dem energisch vorgetragenen Elan, alles oder doch zumindest vieles besser und so gut wie nie zuvor machen zu wollen, nach vorn gerichtet, voller Optimismus und Tatendrang. Wenn auch in all diesen Setzungen schon Ende der 1940er Jahre Wunschdenken und ideologische Verblendung lagen – hier, in dieser historischen Situation finden wir die Ausgangslage für Christoph Heins neuen, großen Roman „Das Narrenschiff“. Im Mittelpunkt stehen zwei Figuren, geboren in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, die zum Zentrum eines über Jahrzehnte sich entspinnenden Familien- und Gesellschaftspanoramas werden, Heimkehrer aus dem stalinistischen Moskau, von der Sowjetunion damit beauftragt, einen ostdeutschen Staat nach ihren Vorstellungen aufzubauen.

Die zentralen Figuren

Da ist zum einen Karsten Emser: Ein vor der Nazizeit hoffnungsvoller Ökonom, im Moskauer Exil für die Koordinierung der Auslandskommunisten verantwortlich, den Stalinschen Säuberungen der späten 1930er Jahre auf ungeklärte Weise und nicht ohne inneren Schaden entgangen. Später erweist er sich als loyaler Aufbauhelfer des neuen deutschen Staats, wird Wirtschaftsprofessor aus Leidenschaft und Überzeugung. Als Mitglied des Zentralkomitees der SED agiert er vorsichtig taktierend und gibt allmählich seinen Zweifeln Raum, vielleicht mit innerer Absetzbewegung. Persönlich ist er bei all dem integer und verlässlich, seiner zwei Jahrzehnte jüngeren Frau ehrlich zugetan. Schließlich wird er in den letzten Tagen der real existierenden DDR in einem Ehrengrab bestattet.

Die andere zentrale Figur ist der ebenfalls zur Gruppe der Moskauer gehörende promovierte Fachmann für Hüttenwesen und Erzbergbau Johannes Goretzka aus einer protestantischen Pfarrersfamilie des Ruhrgebiets, von der er sich früh löst. Er wird zum Nationalsozialisten aus Überzeugung, kommt als am Bein versehrter Kriegsinvalide in sowjetische Gefangenschaft. Dort wird er vom Nationalkomitee Freies Deutschland für die kommunistische Idee gewonnen – auch hierin schließlich als ein unnachgiebig Glaubender und eifersüchtig über andere Richtender. In der sich formierenden DDR ist Goretzka hochambitioniert und hat Hoffnungen auf ein Ministeramt. Nach fachlichen Anmaßungen und Führungskritik wird er kaltgestellt und an einer Parteischule für ein Jahr gemaßregelt. Danach wird er nie wieder seiner tatsächlichen Qualifikation entsprechend verwendet. Privat ist Goretzka kaltherzig und ohne Humor, unterscheidet strikt zwischen zumindest anfänglicher Zuwendung zu seinem leiblichen Sohn und jäher Ablehnung seiner Stieftochter. In seinen späten Jahren wird er so etwas wie ein klassischer „Betonkopf“, bei aller persönlichen Frustration verteidigt er die Sache, seinen Staat, eifersüchtig. Schließlich wird der – schmerzlich ironisch im Kontrast zu Emser – von den Granden seiner Partei nicht für würdig befunden, in einem Ehrengrab bestattet zu werden: Posthum noch eine ganz besondere Niederlage.

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Der Podcast aus der Reihe Dichtung & Wahrheit . Christoph Hein mit dem Soziologen Steffen Mau und dem Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe über sein neues Buch, Das Narrenschiff. Warum ist die DDR kein abgeschlossenes Kapitel?

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Beide, Emser und Goretzka, heiraten um zwanzig Jahre jüngere Frauen. Die sind beide auf ihre Weise ehrgeizig, aber doch mit denkbar unterschiedlichen Voraussetzungen: Rita Emser wirkt von Beginn an ideologisch gefestigt, steigt rasch auf zur stellvertretenden Bürgermeisterin, ist ein politisch denkender und argumentierender Kopf. Anders Yvonne Goretzka: Als junge, unverheiratete Frau mit dem Kind eines jüdischen Mannes, der dem Gewaltregime der Nazis zum Opfer fiel, zwar aus sozialdemokratischem Elternhaus stammend, ist sie dennoch nahezu komplett unpolitisch. Eigentlich hat sie keinen Aufstiegswillen aus ihrem Status als Bürohilfskraft heraus, erst durch ihren Mann Johannes wird sie beinahe gezwungen, Karriere zu machen: Erst als Leiterin eines Kulturhauses, dann in verantwortlicher Position in der staatlichen Filmverwaltung. Dank dieser Positionen erlangt sie ein mehr als solides Selbstbewusstsein. Sie ist lebenslang am schönen Schein interessiert und materiell orientiert, in Partei und beruflichem Umfeld gerade so aktiv, wie unbedingt notwendig.

Im weiteren Kreis

Die Goretzka-Kinder – neben der schon angesprochenen, von Yvonne mit in die Ehe gebrachten Kathinka ist da noch der zunächst vom Vater vergötterte, später mit Erwartungen überfrachtete Sohn Heinrich – stehen für die Generation der unbedingten Anpassung ins Opportune, der Suche nach der Nische: Kathinka als studierte Philosophin und Mitarbeiterin eines kleinen, für den Devisenmarkt des Westens produzierenden Verlags an der Seite eines mäßig staatsfernen Universitätsdozenten. Ihren beiden Kindern stehen dann nach 1989 alle Türen offen. Doch hatten sie sich schon zuvor von der verknöcherten Sozialismus-Idee der Großelterngeneration emanzipiert und innerlich weit entfernt.

Dazu gibt es eine wichtige kontrastierende Seitenfigur, etwa gleichaltrig mit Emser und Goretzka – den Germanisten und Anglisten Benaja Kuckuck: Der ist Shakespeare-Experte von internationalem Ruhm, jüdischer Intellektueller und wird im englischen Exil von Freunden mit der kommunistischen Idee in Kontakt gebracht. Nach dem Krieg versucht er vergeblich, im Westen Deutschlands akademisch Fuß zu fassen. Schließlich geht er in den Ostteil Deutschlands, wird dort aber mit seiner Hoffnung auf eine Professur an einer Universität von Rang erst hingehalten, dann auf die fachfremde Position des staatlichen Kontrolleurs für Kinder- und Jugendfilm abgeschoben. Später findet er sein privates Glück mit einem jüngeren Kameramann und pflegt lebehafte intellektuelle Gesprächskreise. In der Spätphase der DDR und schon im Rentenalter wird Kuckuck doch noch mit dem ersehnten Professorentitel versehen und dazu als Herausgeber für eine Wochenpublikation verantwortlich gemacht – im Spannungsfeld zwischen kritischer Haltung, vorsichtiger Begleitung der Geschehnisse und dem Wunsch, keine Fehler zu begehen, die die Existenz der Zeitschrift in Gefahr bringen könnten.

Treffen der fünf Hauptfiguren – der Ehepaare Emser und Goretzka sowie Kuckucks – ziehen sich durch den Roman. Es ist dies ein bald freimütiger, bald von den Zeitläuften bedrängter Austausch, mit Emser als Zentralgestirn, Goretzka als gegenüber dem ranghöheren Emser devoten, sonst aber aggressiven Verteidiger des Status quo. Kuckuck gefällt sich in der Rolle des geistvoll parlierenden, wider den Stachel löckenden Freigeists. Die beiden Frauen bleiben in diesem Kontext bemerkenswert wenig profiliert – sind eher in ihrem gemeinsamen Schicksal vereint, jüngere Frauen älterer Männer zu sein, verharren in deren Schatten, bestärken sich gegenseitig.

Souverän

Christoph Hein erzählt dieses 750 Seiten umfassende Panorama auktorial, souverän und ohne Überraschungen: Die historischen Ereignisse bilden den Handlungsrahmen der Figuren, von der Staatsgründung über den 17. Juni 1953, den Mauerbau und das sogenannte „Kahlschlag-Plenum“ des Zentralkomitees der SED, das es Kulturschaffenden fortan noch schwerer machte, ihre Kreativität bis zu den Ereignissen des 1989er Herbstes im sozialistischen Deutschland auszuleben. Hein zeigt zunächst Mitglieder der Nomenklatur, doch erweitert er diese Ausgangskonstellation klug um weitere Figuren, deren Haltungen, Ansichten und Gespräche einen immer weiteren Teil auch des im Lauf der Jahrzehnte zunehmend dissidenten Spektrums abbilden – seien es die intellektuellen Freunde von Benaja Kuckuck, manch verschämt und eher hölzern gesuchte Affäre von Yvonne Goretzka oder Freundschaften und Begegnungen der Kinder- und Enkelgeneration: Das gesellschaftliche Bild weitet sich, wird komplettiert und beglaubigt.

Christoph Hein erzählt das sonor und trocken, bleibt im besten Sinne bei der Sache, ohne sich in sprachliche oder erzählstilistische Arabesken zu flüchten. Dieser grundsätzlich nüchterne Zugang macht es leicht, die Gesamtkonstellation der Figuren und ihrer Positionierung in der Zeit im Blick zu behalten. Natürlich stehen sie pars pro toto für die sich formierende, entwickelnde, bald stagnierende, brüchig werdende und schließlich vergehende Gesellschaft. Manche Figuren kommen der Geschichte einfach abhanden, enden jämmerlich und fast geräuschlos, wie etwa im Fall von Johannes Goretzka. Das könnte man unaufmerksam finden oder gar lieblos vom Autor. Doch zeigt sich gerade hierin die Stärke von Christoph Hein, eben nicht nur die Geschichte einzelner Personen zu erzählen, sondern in viel größerer Perspektive einen historischen Bogen zu spannen – die Figuren als Verkörperung eines weiten, überpersonalen Kontextes.

An Bord des Narrenschiffs?

Die Akteure des Romans hätten diese Einordnung zu vielen Zeiten ihres Wegs in der DDR vermutlich abwegig gefunden: Wie konnten Sieger der Geschichte, vermeintlich geschichtsphilosophisch und gesetzmäßig begründet, Narren sein? Die Einsicht, kaum Herren ihres Schicksals zu sein, folgt in kleinen Dosen. Zum Beispiel bei Karsten Emser, der sich bei aller Überzeugung von der historischen Richtigkeit der Idee einer sozialistischen Gesellschaft seiner marginaler werdenden Rolle bewusst ist, der weiß, dass Vernunft und Einsicht keine maßgeblichen Kriterien bei der Entscheidungsfindung der Staatsführung sind, dass Chimären mit größter Intensität nachgejagt wird, anstatt dass sich Einsichten in simple ökonomische und soziale Tatsachen in guten Entscheidungen niederschlagen würden. Insofern: Ja, ein Narrenschiff, von einer Besatzung mit abnehmender Begeisterung und ohne Gefühl für persönliche Verantwortung ins Ungewisse gesteuert, wie losgelöst vom historischen Impuls des Ursprungs, in sich starr und letztlich handlungsunfähig, die junge Generation verlierend oder nur mehr mit Lippenbekenntnissen an sich bindend – und dabei bis in die letzten Tage hinein demonstrativ überzeugt, auf der Seite der historischen Sieger zu stehen. Das Ende ist dieser Narrenschiff-Logik entsprechend nur an der Oberfläche der Fall von etwas Großem – eigentlich ist es das Erlöschen einer schon längst schwach gewordenen Flamme. Bei Christoph Hein versickert die DDR eher in der Geschichte der noch lebenden Figuren, als dass sie laut zusammenbräche. Angerissen werden all die Nöte und Chancen der unmittelbaren Nachwendezeit: Rückübertragungsansprüche, Wegfall scheinbar sicherer Arbeitsplätze, grassierende Ungewissheit auf fast allen Ebenen. Aber auch: Der Aufbruch der jungen Generation, sogar neue Chancen der Eltern. Schließlich wird die Trennung vom Alten auch symbolisch vollzogen: In der letzten Szene zerreißt Kathinka eine alte Postkarte, die sie als Kind zusammen mit Wilhelm Pieck, dem ersten und einzigen Präsidenten der DDR, zeigt. Sie bricht mit ihrem Mann nach Schweden auf, um ihren Sohn zu besuchen, der dort studiert. Ein Schluss, so unsentimental und stimmig wie das ganze Buch.

Christoph Hein liest aus seinem Werk am 17. Juni um 19 Uhr im Rostocker Kulturhafen (Zelt des Circus Fantasia), Warnowufer 55.

Christoph Hein: »Das Narrenschiff«, Fester Einband mit Schutzumschlag, 750 Seiten, Suhrkamp Verlag, 6. Auflage, Originalausgabe 28,00 Euro

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Matthias Lange ist Historiker, Politik- und Musikwissenschaftler, liest einiges, hört manchmal Musik, schreibt über beides, auch für den Kulturkompass MV.

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