Kontemplationen auf dem Saxophon

„Perlen der Ostsee – eine musikalische Schatzsuche”. Für Folge IX hörte sich Til Rohgalf neue Aufnahmen des lettischen Komponisten Ēriks Ešenvalds an.

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Von Til Rohgalf

Im August diesen Jahres erschien mit dem Album „Gratitude“ eine Sammlung von Saxophon-Werken von Ēriks Ešenvalds. Als Solist ist der Jazz-Saxophonist Oskars Petrauskis zu hören. Der 1977 geborene Ēriks Ešenvalds gilt als einer der international anerkanntesten zeitgenössischen Komponisten Lettlands. Seine Musik wird oft als die eines „Dichters und Geschichtenerzählers“ beschrieben. 

Ešenvalds webt als zentrale Inspirationsquellen Elemente der Natur, der Religiosität und der volkstümlichen Mythen in seine Musik. Sein musikalischer Weg ist sowohl akademisch fundiert als auch spirituell tiefgründig. Er besitzt einen Master-Abschluss in Komposition der lettischen Musikakademie Jāzeps Vītols. Der aus dem Kurland stammende Musiker hat Theologie studiert und war als Composer-in-Residence an der Universität Cambridge tätig. Heute wird seine Musik von führenden Chören und Orchestern weltweit aufgeführt. Insbesondere als Komponist von Chorwerken hat er sich international einen Namen gemacht.

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 Auf „Gratitude“ sind ausschließlich Werke mit Saxophon zu hören, die die einzigartige klangliche Verbindung dieses Instruments mit der Orgel erkunden. Ešenvalds beschreibt diese Beziehung so: „Das Saxophon ist meiner Meinung nach das einzige Instrument, das mit der Orgel vergleichbar ist. Es ist im Grunde wie eine weitere Orgelpfeife, nur sehr anders.“ 

Ēriks Ešenvalds (Foto: @Jurģis Rikveilis)

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Die Musik auf „Gratitude“ ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Ēriks Ešenvalds und dem Saxophonisten Oskars Petrauskis. „Oskars bringt seinen eigenen Kosmos und eine klare musikalische Vision mit – jede Phrase ist bewusst mit präziser Intensität und Stimmung gestaltet. Er ist ein herausragender Profi mit erstaunlichen improvisatorischen Fähigkeiten – er spielt nicht nur, sondern erschafft auch eine Geschichte.“  schwärmt Ešenvalds vom Beitrag des Solisten.

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Der Opener auf dem Album, „O Salutaris Hostia“,gehört zu einem der meistgespielten Werke  des Komponisten. Es basiert auf einem Hymnentext von Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert, einem Gebet an Christus. In dieser reduzierten Version erzeugen Petrauskis Saxophon und die von Liene Andreta Kalnciema gespielte Orgel, als einzige gespielte Instrumente, eine kontemplative Stimmung, die klanglich von großer Klarheit und Transparenz bestimmt ist. Bereits bei dieser Aufnahme hört man dem kraftvoll akzentuierten Spiel des Saxophonisten Oskars Petrauskis seine Heimat im Jazz an. Es entsteht eine Atmosphäre, die ein wenig an Kompositionen von Jan Garbarek oder ähnlichen ECM-Veröffentlichungen erinnert.

Oskars Petrauskis (Foto: @Jānis Deinats)

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Für das zweite Werk auf dem Album, „Adoremus in Aeternum“, wurde Ēriks Ešenvalds nach eigenen Worten von der Stimmung beim Betreten einer Kirche, einem Ort, „an dem die Seele Frieden findet“, inspiriert. In stiller Einkehr beginnt das Stück mit der Rezitation einer jahrhundertealten gregorianischen Melodie, sphärisch unterlegt mit einer obertonlastigen Orgelstimme. Das über neunminütige Stück baut sich langsam auf, entwickelt sich durch dynamisch fließende Phrasen zu einem majestätischen Höhepunkt und schließt mit der Rückkehr des Themas in der Saxophonstimme.

Eine noch größere Dynamik entfaltet sich bei „Laudate Dominum“, einem Lobgesang basierend auf dem Psalm 117: „Lobet den Herrn, alle Völker; preiset ihn, alle Nationen!“. Die Musik changiert zwischen meditativen Passagen voller innerer Einkehr und Reflexion und jubelnd-kraftvollen Ausbrüchen. Auch in diesem Arrangement bildet die Orgel ein Fundament, das zwischen warmen und atmosphärischen Klängen und lebhaften Akkordkaskaden oszilliert. Darüber erhebt sich das Saxophon mit einem stark improvisatorischen Charakter.

Das musikalische Herzstück des Albums bildet das dreisätzige Saxophon-Konzert „Visions of the Arctic Sea“. Es stellt gleichsam den Abschluss einer thematischen Trilogie dar, in der Ēriks Ešenvalds Eindrücke seiner Arktis-Expeditionen verarbeitete.  Für den Komponisten ist das Werk dabei mehr als eine Reise in die Natur. Ešenvalds beschreibt dazu eine prägende Erfahrung: das Gefühl, allein in einer großen, leeren Kathedrale zu sitzen. Dieser Ort wurde für ihn zu einer „inneren Welt“, die sich „wie das Nordmeer“ öffnete. In diesem Konzert werde jener persönliche, sakrale Raum in eine universelle, elementare Klanglandschaft verwandelt.

Die Klangwelt des Stücks drückt die Rauheit und elementare Kraft des Nordmeers aus – voller kontemplativer Erhabenheit, erfüllt von einer Schönheit des Einfachen. Beim Hören entstehen fast unweigerlich Bilder arktischer Landschaften – authentisch oder idealisiert. Dass die Saxophonstimme so organisch aus dieser Textur erwächst, ist kein Zufall. Das Konzert ist nicht nur für, es ist auch mit Petrauskis geschrieben, denn Oskars Petrauskis komponierte die Solokadenz und die Saxophonstimme des zweiten Satzes. Eine besondere Atmosphäre schafft zudem der Einsatz der E-Gitarre, die der Komponist als „eine Stimme aus der Ferne“ beschreibt. Begleitet wird Oskars Petrauskis vom Liepāja Symphony Orchestra, geleitet von Douglas Bostock.

Das Album schließt mit einem alternativen Arrangement von „O Salutaris Hostia“, das durch die Sopranstimme von Marina Rebeka ergänzt wird. So klingt es weitaus dynamischer als der Einstieg des Albums, allerdings verliert es auch an kontemplativer Kraft.

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Bei „Gratitude“ handelt es sich um mehr als eine reine Interpretation oder Werkschau: Es ist das Zeugnis einer tiefen künstlerischen Partnerschaft. Oskars Petrauskis, der hier nicht nur als Solist die Werke Ešenvalds, sondern auch als kreativer Partner in Erscheinung tritt, gelingt es mit seiner handwerklichen Raffinesse, das Saxophon einerseits organisch in die Gesamtkompositionen einzubetten und andererseits klangliche Nuancen und Akzente zu setzen, die aufhorchen lassen. Gemeinsam mit der Organistin Liene Andreta Kalnciema schafft er eine symbiotische Klangwelt, die in den musikalisch reduzierten und zurückgenommenen Momenten ihre stärksten Momente erlebt.

Liene Andreta Kalnciema (Foto:@ Jānis Porietis)

Weil Ēriks Ešenvalds vor allem durch seine Chorwerke bekannt ist, ist dieses Album ein attraktiver und gelungener Anlass, eine ganz andere musikalische Welt des Komponisten kennenzulernen.

Titel: Cover photo: @Jānis Deinats

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Til Rohgalf studierte Sonderpädagogik, Philosophie und Geschichte (M.A.), er ist im Schuldienst tätig, musikbegeistert und musikalisch aktiv. Ihn interessieren politische, kulturelle und geistesgeschichtliche Themen.

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