PEN Berlin – Bürgerforum zur Ausladung von Michel Friedman
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Von Susanne Scherrer
Wer etwas über die Mecklenburger1 erfahren möchte, muss bei einem ihrer berühmtesten Vertreter nachschlagen. Uwe Johnson hat den Charakter dieser Landschaft und ihrer Menschen wie kein anderer beobachtet, erfasst und in „Jahrestage“ literarisch destilliert. Man geht hier sparsam um mit Worten, die Sätze ziehen sich wie ein Pflug schwer durch den lehmigen Boden, aber am Ende steht eine lakonische Pointe.
„Die Ernte wird wohl nichts. Schlechtes Jahr, sagen sie.“ – „Jahr wie jedes. Nimm, was kommt.“
„Und wenn nichts kommt?“ – „Na, dann kommt eben nichts.“
Der Klützer Winkel an der Ostsee ist bekannt für seine fruchtbare Erde, deshalb wird er auch „Speckwinkel“ genannt. Die Getreideernte 2025 lag über dem langjährigen Durchschnitt. Bei Besuchern erfreut sich die westmecklenburgische Ostseeküste steigender Beliebtheit. Viele Menschen aus benachbarten Bundesländern besitzen eine Ferienwohnung im Klützer Winkel und verbringen viel Zeit in der Region. In der Stadt Klütz mit ihren 3150 Einwohnern wurden im vergangenen Jahr über 18.000 Übernachtungen gezählt.

Den Großteil der Feriengäste zieht es jedoch ins benachbarte Boltenhagen, direkt an den Strand. Dass sich die beiden Orte seit jeher spinnefeind gegenüberstehen, erfuhren die Teilnehmer der Kundgebung am vergangenen Montag, die der PEN Berlin organisierte, anlässlich der Ausladung Michel Friedmans zur Hannah-Arendt-Gedenkwoche im Oktober 2026. „Wenn ihr ihn hier nicht haben wollt, dann kommt er nach Boltenhagen, da haben wir eine große Halle, da kann er reden!“, rief eine der Teilnehmerinnen. Das Murren im Klützer Publikum war deutlich hörbar. Der 85-jährige ehemalige Landrat der Region berief sich auf seine guten Beziehungen zum Schloss Bothmer bei Klütz, da ließe sich auch etwas machen für den Friedman. Es mangelt also nicht an passenden Veranstaltungsorten. Allen ist klar, dass das Uwe-Johnson-Haus viel zu klein wäre für den zu erwartenden Andrang.
Unklar bleibt, ob Michel Friedman im kommenden Oktober nach Klütz kommen wird. Auf die der Einladung folgende Ausladung wurde bisher keine neue Einladung ausgesprochen. Bis es dazu kommen kann, muss noch kräftig geackert werden. Zuerst wären Vorurteile und Vorverurteilungen offenzulegen. Neu-Klützer mit Misstrauen gegen den Entwicklungsstatus der freiheitlichen Demokratie östlich Lübecks und Alt-Klützer mit Misstrauen gegen die als feindliche Übernahme empfundene Landnahme durch westlich von Dassow geborene Mitbürger müssten sich ihren sorgsam verborgenen Ressentiments stellen und sie hinterfragen.
Dann wären heikle Punkte aufzuarbeiten, die Scham und Fremdschämen betreffen. Fehler zugeben, womöglich öffentlich, das trifft vor allem Männer ins Knochenmark. Ein altgedienter und hoch angesehener Bürgermeister, obendrein Mecklenburger, wird sich dabei nicht leichter tun als ein versierter Literaturwissenschaftler mit Leitungsfunktion. Ob jener sich in ein Argument verrannte, das sich leicht widerlegen ließ, und darüber sein Amt hinschmiss, oder dieser aus Angst vor einem möglichen Jobverlust eine Anweisung ausführte, die er danach nicht mehr rechtfertigen konnte – das müssen die beiden mit sich und am besten miteinander ausmachen. Schwerer wiegt die Scham jener Verantwortlichen, die nicht richtig hinschauten, übler Nachrede und Gerüchten glaubten und nach Sympathie Stellung bezogen. Wen ich mag, der hat recht! Friedman muss ausgeladen werden!



Noch bedrückter müssten alle sein, die sich dem Geschehen einfach hingaben und gar nichts taten: durch die Wellen medialer Empörung einfach durchtauchen, wieder auftauchen und einfach weitermachen im schönen, friedlichen Landstädtchen Klütz. Bei Uwe Johnson lernen wir: Wenn man sich einem Landstrich verschrieben hat, wird man einerseits leidendes Opfer einer Geschichte, an der man nichts ändern kann. Das entlässt jede Einzelne und jeden Einzelnen jedoch nicht aus der individuellen Verantwortung. Man kann sich nicht in eine private Existenz jenseits der Geschichte flüchten.
Und wie beschämt müssen sich diejenigen fühlen, die genau das versucht haben, die Stellung bezogen, sich für die Unabhängigkeit der „Leuchtturm“-Kulturinstitution Uwe-Johnson-Haus aussprachen – aber nicht genug auszurichten vermochten. Peinlich berührt müssen auch diejenigen sein, die keine oder nicht genügend Solidarität übten. Gab es einen Aufschrei der Kunst- und Kulturschaffenden des Landes, der Kulturbürger? Aufrufe, Proteste? Fremdschämen gilt für alle grundgesetzestreuen und kulturabhängigen Bürger, die schmerzhaft erfahren mussten, dass es hier so weit kommen konnte, die Autorin dieses Beitrags eingeschlossen.


Warum muss Michel Friedmann wieder eingeladen werden? Eine Antwort darauf liefert der Facebook-Eintrag des Bundestagsabgeordneten Christoph Grimm. „Wir als AfD wissen doch in dieser Zeit um den Wert von Meinungs-, Äußerungs- und Gedankenfreiheit“, kommentierte er die Ausladung von Michel Friedmann, dem er gleichzeitig nicht Angst um die Demokratie, sondern Angst vor der Demokratie unterstellt. Wessen „Meinungsfreiheit“ und welche „Demokratie“ er damit meint? Seine Follower posten Antworten, die nicht überraschen und nicht zitierfähig sind.
Also müssen sich die Beteiligten wieder zusammenraufen, Selbstgerechtigkeit und Scham überwinden und mutig für den gemeinsamen Wert der Unabhängigkeit von Kunst und Kulturinstitutionen einstehen. Für die Klützer, für die Mecklenburger, für die vielen Menschen, die hierherkommen. Selbst wenn das jetzt etwas dauert.
„Der Zaun ist ja wieder windschief.“ – „Wart’s ab, wenn’s Frühjahr wird.“ – „Ja, wird schon wieder grade gehen.“
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Titel: v.l.n.r.: Oliver Hintz (Literaturhaus Klütz), Michel Friedman (Publizist), Thea Dorn (PEN Berlin) und Miro Zahra (Künstlerhaus Schloss Plüschow). Fotos: Peter Scherrer. (1) Im Plural sind weibliche, männliche und diverse Geschlechtsformen einbezogen
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Susanne Scherrer, studierte Dipl.Pol., forscht zur Familie Mendelssohn, übersetzt aus dem Ungarischen, vermittelt und unterstützt Literatur, Konzert- und Kunstevents. Lebt in Schwerin.