„Hier draussen“ von Martina Behm

Eines Nachts, auf der weiten Heimfahrt vom Job in Hamburg ins kleine holsteinische Fehrdorf, wo er zusammen mit seiner Frau Lara und den beiden Kindern seit drei Jahren lebt, überfährt der IT-Unternehmer Ingo eine weiße Hirschkuh. Der herbeigerufene zuständige Jäger Uwe ist total genervt, denn einer weißen Hirschkuh den Gnadenschuss zu geben, bedeutet, dass der Schütze selbst nicht länger als ein Jahr leben wird. Ingo findet diesen Gedanken völligen Quatsch, aber da er gemeinsam mit Uwe das Gewehr abdrückt, steckt er nun mitten drin in diesem Aberglauben.

Mit diesem wuchtigen Einstieg in ihren Debütroman hat einen die 1974 geborene Autorin Martina Behm schon gleich gefangen. Nach und nach entwickelt sie ein detailliertes Panoramabild des Dorfes. Wir lernen viele Bewohner genauer kennen: den Hühnerzüchter in Geldnöten; eben jenen Uwe, der keine Frau findet und immer noch um den Tod seiner Mutter trauert; die beiden übriggebliebenen Öko-WG-Bewohner, Jutta und Armin, die kein Paar sind (oder doch?); die emsige Landfrau, die unentwegt Gemeinschaftsereignisse organisiert; die unglücklich verheiratete Bäuerin und viele andere mehr. Durch den Vorfall mit der weißen Hirschkuh, der sich natürlich rasend schnell herumspricht, werden alle aufgerüttelt und fragen sich plötzlich, was wäre, wenn die Prophezeiung doch wahr wird. Was würde man selber tun, wenn man nur noch ein Jahr zu leben hätte? Ist das Leben, das man lebt, das richtige?

Manchmal verliert man etwas den Überblick bei den vielen Personen, aber Martina Behm gelingt es immer wieder, die Fäden zusammenzuführen. Sie bleibt immer auf der Seite ihrer Figuren, macht sich niemals auf deren Kosten lustig. Die Wortkargheit, die sie genau beschreibt, und auch, dass sie vor dem Plattdeutschen keine Scheu hat, führen dennoch öfter zu witzigen Passagen. Kommunikation kann auch ohne viele Worte stattfinden, aber die Missverständnisse oder falschen Interpretationen, die daraus resultieren, sind freilich nicht ohne. Über allen Schicksalen schwebt eine gehörige Portion Melancholie.

„Leben im geplatzten Traum. Immer noch das Beste, das er sich vorstellen konnte.“

Es steht nicht nur die zugezogene Familie im Mittelpunkt, sondern die gesamte Dorfgemeinschaft wird unter die Lupe genommen. Die ungeschriebenen Regeln, der Aberglaube, die Traditionen und die Frage der Zugehörigkeit. Diese stellt Lara sich besonders häufig, die sich das Landleben ganz anders vorgestellt hatte. Ihre Ehe mit Ingo wird im Laufe weiterer Geschehnisse heftig auf die Probe gestellt.

Beeindruckend ist, wie sie die Härte der modernen Landwirtschaft beschreibt. Das ist sehr weit von jeder Idylle entfernt und wohl realistisch. Die Geschichte, deren Ausgang natürlich nicht verraten wird, ist sowohl für Stadt- wie auch für Landbewohner sehr zu empfehlen.

„Hier draussen“ ist erschienen bei dtv und 496 Seiten kosten 24 Euro

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Manja Wittmann, ehemals aus der Film- und Fernsehbranche, jetzt Buchhändlerin in München empfiehlt beim Kulturkompass-MV ihre aktuellen literarischen Favoriten, gerne auch von nord- und ostdeutschen Autor*innen.
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