Dem Tiger in die Augen schauen

Ein Blick in den Roman „Die Winterschwimmerin“ von Marion Poschmann

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von Gottfried Timm

Wahrnehmungen vertiefen, Grenzen sprengen, Kraft entfalten – diese thematischen Linien bestimmen „Die Winterschwimmerin“, ein virtuos komponiertes Werk der vielfach geehrten, als erste mit dem Deutschen Preis für Nature Writing ausgezeichneten Autorin Marion Poschmann.

Darum geht es: Die Protagonistin Thekla steigt zuerst im Herbst, dann im Winter ins eiskalte Wasser. Thekla versteht dieses ungewöhnliche Vorhaben, das Schwimmen bei Schnee und Eis, als Übung, bei der sie ihre innere Hitze an ihre Umgebung abgeben kann, eine Hitze, die sie parallel zum Eintauchen ins Eisige durch fernöstliche Meditationen nährt. Ihr Ziel ist es, sich freizumachen von fesselnden Prägungen, von Zwängen. Sie spürt, dass sie gesellschaftliche Konventionen überschreiten wird. Thekla begibt sich auf einen Weg der inneren Stärkung. Der Kälte, in die sie hineinschreitet, setzt sie ein intensives Brennen, ihre „lodernde Konzentration“, entgegen.

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Marion Poschmann (Foto: @ Heike Steinweg, Suhrkamp Verlag)

Der Roman wird im Untertitel als Verslegende bezeichnet, will also wie eine Legende, eine Heiligenlegende, gelesen werden: gleichsam transparent für eine erst auf den zweiten Blick erkennbare Wirklichkeit. Wir dürfen gespannt sein. Denn tatsächlich greift die Autorin auf eine spektakuläre christliche Schrift aus dem zweiten Jahrhundert zurück, auf die Akten des Paulus und der Thekla, in der die junge Thekla aus den vorherrschenden Zwängen heraustritt, ihre Verlobung auflöst und ihr Leben neu ausrichtet, es ausweitet. Sie wird geächtet, verfolgt und soll auf einem Scheiterhaufen verbrennen, was jedoch durch einen heftigen Gewitterregen vereitelt wird. Dann wird sie vor hungrige Bären in die Arena geworfen, vom sicheren Tod allerdings durch eine Löwin gerettet. Jene Thekla ist die Namenspatin für Thekla, unsere Winterschwimmerin.

In ihrer Legende erzählt Marion Poschmann von einem Tiger. Die Raubkatze, aus einem Zoo in Dassow entlaufen, quert die Trave und pirscht sich heran an die Lübecker Bucht. Dort lässt sie sich auf einem Badetuch nieder, das die in der winterlichen Ostsee schwimmende Thekla zuvor am Strand abgelegt hat. Als Thekla lachend, erfrischt, tiefenentspannt, „bereit zu jeder Zeit einfach aus sich heraus zu lodern … wie ein Scheit“, aus dem eiskalten Meer emporsteigt, kommt es zur Begegnung auf dem Tuch am Strand. Seine Pranke schwer auf ihrem Knie, ihr Kopf an seiner Flanke, ein achtsames Abtasten, Hinfühlen. Der Tiger rührt sich nicht. „In der Pupille des Tigers konzentriert sich jetzt die Fülle … Es könnte glücken, den Kosmos aus verstreuten Einzelstücken für einen Augenblick ins Gleichgewicht zu rücken.“ Grenzenlos beglückendes Miteinander. Erfüllte Verheißung eines paradiesischen Moments zwischen menschlichem Geist und der wilden Natur.

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Auch die Erzählung selbst ist meisterhaft aus verschiedenen Einzelstücken komponiert. Spirituelle Traditionen Ostasiens werden eingefangen durch literarische Gattungen und Reimschemata der Antike und des Mittelalters.

Wer aber ist der Tiger für Thekla, dessen Auftritt sich durch ihre Imaginationen bei der Beobachtung von Streifen und Schattenlinien auf der Wasseroberfläche und weit unter dieser früh ankündigt? Was sieht, sucht Thekla beim Eintauchen in die Tiefen der Wildnis?

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Marion Poschman (Foto: © Jürgen Bauer, Suhrkamp Verlag)
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In ihrem Essayband „Mondbetrachtung in mondloser Nacht“ gibt die Autorin Einblicke in ihre literarische Denkwerkstatt (S. 22 f.). „In der Erfahrung des Erhabenen (das Überwältigende, Undarstellbare, das, was die gewöhnlichen Wahrnehmungsweisen überschreitet) wird das Subjekt zwischen zwei Polen hin- und hergerissen: Angesichts des Übermächtigen fühlt es sich nichtig und bedroht. Wenn es ihm aber gelingt, sich ‚aufzuschwingen‘, sich geistig über seine Grenzen zu erheben, kann es in der Identifikation mit dem Übermaß den eigenen Nachteil (die Angst vor dem Tode) für einen Moment vergessen. Diese Selbstüberschreitung hat etwas Illusionäres, doch liegt in ihr auch ein Moment der Selbstvergessenheit, eine Selbstrelativierung, in der das eigene Ich nicht mehr von der gewohnten Wichtigkeit ist.“ In „Die Winterschwimmerin“ wechselt immer mal wieder die Erzählperspektive, sie übersteigt die in jeder Eindeutigkeit liegende Begrenztheit und kann im wahrsten Wortsinn verschwimmen. Das Ich der Protagonistin schwebt, versinkt, löst sich auf wie Eis oder Dampf oder Nebel im sie umgebenden Raum.

Wunderbar rhythmisch, schwungvoll und augenzwinkernd, in vielfältigen Formen geschrieben, hier sprachlich dicht und dort lose gebunden. Beim Lesen wird man mitgetragen vom lyrischen Sound der Erzählung und ihrer literarischen Musikalität. Am 8. September wird „Die Winterschwimmerin“ in Schwerin in der Reihe „Montags bei littera et cetera“ vorgetragen von der philosophischen Poetin selbst, ergänzt von einem Gespräch zu den Fragen des anwesenden Publikums.

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Gottfried Timm, geboren und aufgewachsen in Mecklenburg, ehemaliger Pastor und Innenminister in MV, SPD – Mitglied, engagiert sich für den Klimaschutz, ist leidenschaftlich gern auf dem Wasser, lebt in Schwerin.
 

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