Mitreißendes Ballett-Debüt in der Parchimer Kulturmühle
.
von Til Rohgalf
Die Kulturmühle Parchim betrat mit der Premiere Neuland. Aufgrund der Sanierungsarbeiten am Staatstheater in Schwerin präsentierte das Ensemble erstmals am Parchimer Spielort ein Ballett. Time to Love ist ein zweiteiliger Ballettabend der renommierten und interdisziplinär arbeitenden Choreographin Lucia Giarratanas und des Choreographen Ilya Vidrin.
Ilya Vidrin versucht im ersten Teil des Abends, sich mit dem Werk Mit oder Ohne, der Liebe als weltumspannendes, „metaphysisches“ Konzept zu nähern. Musikalisch arrangiert er bei Mit oder Ohne Felix Mendelssohn Bartholdys „Lieder ohne Worte“. Daneben sind zwei experimentell-psychedelische Instrumentals des US-amerikanischen Singer-Songwriters Andrew Bird zu hören.
„Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?“ – Mit der Rezitation von Rilkes „Liebes-Lied“ lässt Ilya Vidrin die Frage, wie man die eigene Seele unabhängig hält und davor bewahrt, sich zu sehr mit der geliebten Person zu vermischen, vom Ballettensemble tänzerisch verhandeln. In vordergründig spielerischer Leichtigkeit setzen die Tänzer*innen den Antagonismus aus Hingabe und Angst vor Abhängigkeit, dem völligen Aufgehen im anderen, performativ um. Überzeugend sind dabei die laufenden Wechsel aus Gruppenperformance, dem „Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht“, und Soloparts, dem Sehnen, seine Seele „bei irgendwas Verlorenem im Dunkel unterzubringen“ – fern von der geliebten Person.

Die verletzliche und persönliche Beziehung zwischen Dichterin und Leser*in ist das zweite große Thema von Ilya Vidrins essayistischer Choreographie. Die lyrische Grundlage bietet dabei das Gedicht „Die Dichterin“ von Gertrud Kolmar. Zartheit und Ausgeliefertsein, die Machtlosigkeit der Dichterin in den Händen des Lesers sind zentrale Motive: „Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt / In deiner Faust.”
Zum Andante in e-Moll von Mendelssohn Bartholdy (op. 102 Nr. 1) für Violoncello und Gesang betreten die Tänzerinnen in deutlich zurückgenommenen Kostümen die Bühne. So setzen sie diese Gefühlswelten in ausdrucksstarken Szenen gekonnt um.

Kolmars Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen bei der dichterischen Wahl von Sprache und Themenwelt findet ihren performativen Niederschlag in der Dekonstruktion von Bildern männlicher Dominanz und weiblicher Emotionalität. Schillers Hymne „Triumph der Liebe“ stimmt auf das Finale von Ilya Vidrins Mit oder Ohne ein. In einer Welt ohne Liebe – „Stein und Felsen ihre Herzen, / Ihre Seelen Nacht“ –, effektvoll ausgeleuchtet, beginnt dieser Teil, um schließlich mit der Inszenierung der Liebe als metaphysisches Prinzip ihren Höhepunkt und Abschluss zu finden: „Selig durch die Liebe / Götter – durch die Liebe / Menschen Göttern gleich! Liebe macht den Himmel / Himmlischer – die Erde / Zu dem Himmelreich.” Mit bunten, extravaganten Kostümen und ekstatischer Performance endet dieser intensive, tiefsinnige und tänzerisch großartig umgesetzte Teil von Time to Love.
Die Liebe besiegt alles
Die Liebe als elementare Kraft zu erspüren, ist die Intention Lucia Giarratanas bei ihrem Werk Omnia Vincit Amor, dem zweiten Teil des Abends. Choreografisch setzt sie sich in drei miteinander verwobenen Kapiteln – „Liebe und Tod”, „Liebe und Vernunft”, „Liebe und Leidenschaft” – mit der Liebe auseinander und offenbart darin ihre vergängliche, reflektierte und wilde Dimension.
Eindringlich und minimalistisch beginnt es musikalisch mit Jóhann Jóhannssons Escape (2009). Geprägt ist das fast arhythmische Stück von sich langsam aufbauenden Streichern, düsteren Elektro-Drones und choralen Elementen. Loop-Schichten verfremdeter Gesangsstimmen bilden ein fragiles, schmerzvolles und seltsam anachronistisches Klangkonstrukt. Die Tänzer*innen setzen Lucia Giarratanas mit vielen akrobatischen Elementen versehene Choreographie in engen weißen Kostümen, teils weiß geschminkt, um. Im Bühnennebel wirken ihre Bewegungen bizarr und gespenstisch. Die tänzerische Auseinandersetzung mit dem Tod als traumatisches Ereignis zwischen Liebenden wird in gnadenloser Intensität umgesetzt. Es ist einer der stärksten Momente des Abends.

Für das Kapitel „Liebe und Vernunft” wählte Lucia Giarratana das Stück Louis XIV’s Demons (2008) des mexikanischen Electronica-Künstlers Murcof (Fernando Corona). Das spannungsvolle, zerrissene und beklemmende Stück ist im Spannungsfeld von Minimalelektronik und Ambient angesiedelt. Die Liebe als Kontrapunkt zu den „Noten der Logik”, wie es zu Beginn dieses Teils heißt, ist musikalisch treffend gewählt. Entsprechend expressiv und ekstatisch setzt Lucia Giarratanas Choreographie diesen Einbruch des Irrationalen tänzerisch um.
Im letzten Kapitel „Liebe und Leidenschaft” erklingt der zweite Satz von Franz Schuberts Streichquartett Nr. 14 in d-Moll (Der Tod und das Mädchen) – eine Meditation über Tod, Abschied und Erlösung. Es ist ein intensives Finale. Der spielerische Wechsel von Gruppenperformance und Partnering-Elementen, bei denen Tanz und Akrobatik eine ununterscheidbare Melange ergeben, macht diesen Teil von Time to Love zu einem höchst intensiven und ausdrucksstarken. Lucia Giarratana lässt schließlich auch tänzerische Motive aus den vorherigen Teilen einfließen und das Kernthema „Liebe” im Spannungsfeld von Tod und Leidenschaft verorten.
Omnia Vincit Amor ist eine tanzperformative Tour de Force mit psychoanalytischen Deutungsansätzen. Schichten des Unbewussten (oder des unaussprechlichen „Realen” bei Jacques Lacan) werden hier in Form einer expressiven, extravaganten und in Teilen verstörenden Inszenierung sukzessive in die symbolische Welt des zeitgenössischen Balletts überführt und offengelegt. Tänzerische Feinfühligkeit und psychologische Tiefe sind die beiden prägenden Elemente von Lucia Giarratanas Werk.
An diesem Abend brillierten die Tänzer*innen als Gesamtensemble und zeigten bei den sehr unterschiedlichen Choreographiestilen ihr breites und außergewöhnliches Repertoire. Bei völligem Verzicht auf Bühnenbilder und sparsamen Einsatz von Lichteffekten gelang ihnen in der intimen Atmosphäre des Parchimer Hauses ein mitreißendes Ballett-Erlebnis.
Das Publikum in der am Samstagabend nicht ganz ausverkauften Kulturmühle honorierte diesen außergewöhnlichen Abend mit kräftigem, lang anhaltendem Applaus und Standing Ovations.
Time to Love ist heute um 16.00 Uhr noch einmal in der Kulturmühle Parchim zu sehen. Am 3. Oktober ist das Ballett in der M*Halle in Schwerin zu sehen.
(Titelfoto: Ensemble © Anton Fisccher)
.
